1899 – Staffel 1

Film-Kritik von Marcel Scharrenbroich / Titel-Motiv: © Netflix

After Dark

Was verloren ist, wird gefunden werden

Das gewaltige Schiff Kerberos befindet sich im Oktober des Jahres 1899 auf der transatlantischen Route von London nach New York. Neben der rund 500-köpfigen Crew sind mehr als 1.400 Passagiere an Bord, die in den Vereinigten Staaten auf ein neues Leben hoffen. Während die Upper-Class im prunkvollen Speisesaal diniert, hausen im Rumpf des Schiffes die Ärmsten der Armen bei durchaus fragwürdigen Verhältnissen. Unter den Oberklasse-Passagieren befindet sich auch die englische Ärztin Maura Franklin (Emily Beecham), die einer Aufforderung ihres Bruders folgt. Er schrieb ihr, dass er sie unbedingt in New York treffen müsse, um sie darüber zu unterrichten, was ihr gemeinsamer Vater getan hat. Von Flashback-artigen Albträumen geplagt, fällt Mauras Blick auch auf die Zeitung. Dort wird berichtet, dass noch immer jegliche Spur der Prometheus fehlt. Das aus derselben Reederei stammende Schwesternschiff der Kerberos befand sich vor vier Monaten auf der gleichen Route, verschwand aber spurlos im Nichts. Unklar ist auch, was mit den Passagieren und der Crew geschah.

Um das plötzliche Verschwinden ranken sich allerlei Gerüchte, wobei davon ausgegangen wird, dass die Prometheus schlicht und einfach gesunken sei. Dass dem scheinbar nicht so ist, lässt Eyk Larsen (Andreas Pietschmann), den Kapitän der Kerberos, mit einer schweren Entscheidung ringen. Man empfängt plötzlich Nachrichten, die eindeutig von dem lange verschollenen Schiff zu stammen scheinen. Larsen beschließt, den Kurs zu ändern. Dass er damit den Unmut der Passagiere auf sich zieht, die ihrerseits alle gute Gründe haben, um ihrer einstigen Heimat den Rücken zu kehren, interessiert ihn in diesem Moment herzlich wenig. Immerhin stehen gut 2.000 Menschenleben auf dem Spiel, und die Chance auf deren Rettung will der Kapitän nicht verstreichen lassen.

Tatsächlich stimmen die gemorsten Koordinaten und die Prometheus treibt gespenstisch durchs Wasser. Mit einer ausgewählten Mannschaft rudert Larsen hinüber, auf alle möglichen Szenarien gefasst. Die See ist ruhig, die Nacht tiefschwarz… und das Schiff menschenleer. Viel mehr wirkt die Prometheus wie ein Geisterschiff, das nicht erst seit vier Monaten verschwunden ist. Alles erscheint verwittert und selbst der Telegraf, von dem man eben noch Signale empfing, scheint schon lange zerstört. Was ist an Bord geschehen? Als Larsen dort etwas entdeckt, was unmöglich da sein kann, macht sich Unbehagen breit. Dann stößt die kleine Truppe auf einen Jungen (Fflyn Edwards), den man in einen Schrank eingesperrt hat. In seinen Händen hält er ein seltsames Artefakt. Eine schwarze Pyramide.

Zeitgleich klettert ein mysteriöser Fremder (Aneurin Barnard) unbemerkt an Bord der Kerberos. Und mit dem Eintreffen der beiden neuen „Passagiere“ beginnt für die Menschen auf der Kerberos ein Albtraum, aus dem es womöglich kein Erwachen mehr gibt. Und es stellt sich die Frage, ob ein Erwachen überhaupt erstrebenswert wäre…

Handschrift

„1899“ geht ziemlich schnell in die Vollen. Sowohl was das Vorstellen der zahlreichen Charaktere betrifft, als auch beim Streuen von Mysterien. Es dauert nur wenige Minuten bis die ersten Fragen aufgeworfen werden. Das reißt auch erstmal nicht ab, und mit jedem neuen Charakter wachsen die Handlungsbruchstücke, die noch zusammengesetzt werden wollen. Hier gibt sich „1899“ erwartungsgemäß sehr geheimnisvoll, jedoch scheint schnell durch, dass man genau weiß, wo man mit den Figuren hinwill. Im Gegensatz zum früheren Mystery-Dauerbrenner „Lost“, wo sich nach dem überragenden Erfolg von Staffel zu Staffel geschrieben wurde, ohne noch viel zu erzählen zu haben. Schon bei „Dark“ stand der Plan von Anfang an fest, die Handlung in drei Staffeln zu erzählen. Und das merkte man der dichten Inszenierung deutlich an, da man Logiklöcher trotz einer verwirrenden Handlung mit Zeitreise-Thematik vergeblich suchte. Dazu braucht es schon einen unumstößlichen Masterplan, weshalb sich „Dark“ bei mir die Spitzenposition auf dem Mystery-Treppchen mit „Twin Peaks“ teilt… obwohl es dort hinter den Kulissen etwas planloser zuging. Dafür aber wegweisend und die TV-Landschaft für immer prägend.

Dass das Paar Jantje Friese (Idee und Drehbuch) und Baran bo Odar (Idee und Regie) sowohl für „Dark“ als auch für „1899“ verantwortlich sind, merkt man schnell. Bestimmte Motive finden sich in beiden Serien. Seien es die mysteriösen Artefakte, das Kriechen durch enge Gänge, kryptische Dialoge, undurchsichtige Strippenzieher im Hintergrund oder die unheilschwangere Sounduntermalung. Auch beim Setting gibt es Gemeinsamkeiten, obwohl sich eine Kleinstadt augenscheinlich nur schwer mit einem Passagierschiff vergleichen lässt. Trotzdem haben beide Handlungsorte - in „Dark“ die Kleinstadt Winden und in „1899“ die rund 300 Meter lange Kerberos - so viel Präsenz, dass ihnen schon fast eine tragende Hauptrolle in ihren jeweiligen Formaten zuzuschreiben ist. Der düstere Look und die damit verbundene beklemmende Atmosphäre sind weitere Markenzeichen beider Serien.

Dass das Duo handwerklich wie ideenreich etwas auf dem Kasten hat, konnte schon ihr Film „Who Am I - Kein System ist sicher“ aus dem Jahr 2014 eindrucksvoll unter Beweis stellen. Ein atemloser Thriller um ein Hacker-Kollektiv, der mit einem hervorragenden Cast (Tom Schilling, Hannah Herzsprung, Elyas M’Barek, Wotan Wilke Möhring, Trine Dyrholm und Antoine Monot, Jr.), hohem Tempo und zahlreichen Wendungen zum Überraschungserfolg avancierte.

International

Eine große Stärke von „1899“ ist der internationale Cast. Um Besatzung und Passagiere der Kerberos authentisch erscheinen zu lassen, castete man unter anderem in England (Emily Beecham, Rosalie Craig), Wales (Aneurin Barnard), Deutschland (Andres Pietschmann, Tino Mewes), Spanien (Miguel Bernardeau), Polen (Maciej Musiał), Dänemark (Lucas Lynggaard Tønnesen, Clara Rosager), Frankreich (Mathilde Ollivier), China (Isabella Wei, Gabby Wong) und Belgien (Jonas Bloquet). Internationale Besetzungen sind jetzt nicht die große Seltenheit, wenn man sich zum Beispiel Tarantinos „Inglourious Basterds“, „Game of Thrones“ oder diverse „007“-Filme anschaut. „1899“ sticht dennoch heraus, da in diesem Falle alle Darstellerinnen und Dartsteller in ihrer jeweiligen Muttersprache sprechen. Diese Sprachbarrieren sind ein wichtiger Teil der Serie, weshalb der Originalton deutlich vorzuziehen ist. Selbstverständlich gibt es auch eine komplett deutsche Synchronisation, die allerdings in vielen Szenen die Stimmung nicht nur killt, sondern Zuschauer mit zusätzlichen Fragen verwirrt. Szenen, in denen versucht wird, eine Situation durch Gestiken zu erläutern, machen einfach wenig Sinn, wenn beide Parteien ein- und dieselbe Sprache sprechen. Ein Reibungspunkt, der so auch nicht im Sinne der Macher gewesen sein kann.

Ein Wiedersehen gibt es in „1899“ mit dem deutschen Schauspieler Andreas Pietschmann. Als geheimnisumwobener Fremder war Pietschmann bereits eine tragende Figur in „Dark“, weshalb man ihn (wortwörtlich) unbedingt an Bord haben wollte. Die Chemie zwischen ihm und Hauptdarstellerin Emily Beecham („28 Weeks Later“, Into the Badlands“, „Cruella“) funktioniert hervorragend. Generell kann man die internationale Besetzung nur loben.

(Fast) revolutionär…

…ist das verwendete Technik-Verfahren, mit dem „1899“ realisiert wurde. Bereits während der „Dark“-Dreharbeiten begann die Planungsphase für das neue Projekt. Dass ausgerechnet eine weltweite Pandemie in die Pläne grätscht, war da noch nicht absehbar. Dreharbeiten in verschiedenen Ländern konnten nicht mehr so stattfinden, wie man es sich vorgestellt hatte. Das Projekt zu kippen, kam aber auch nicht in Frage. Eine noch recht neue Technik, die anfänglich noch skeptisch betrachtet wurde, spielte der Produktion dann aber in die Hände. Die Rede ist von The Volume:

The Volume ist eine gigantische gewölbte LED-Wand, die aus zahlreichen Einzelbildschirmen besteht. Mit ihren 360° umspannt sie das gesamte Set und es lassen sich darauf hochauflösende Hintergründe projizieren, mit denen eine Szene quasi live vor Ort zum Leben erwacht. Damit wird dem aufwändigen Verfahren der Post-Production bereits ein Schritt vorweggenommen. Green Screens, bei denen Darstellerinnen und Darsteller auf nicht vorhandene Welten reagieren müssen, gehören mit dem neuen Technik-Quantensprung der Vergangenheit an. Das wirkt sich natürlich auch auf die Beleuchtung aus, welche nicht nachträglich berechnet werden muss. Die Volume-Darstellungen reagieren mit den Kameras und richten sich perspektivisch aus, was bei vorherigen Technologien noch ein Wunschtraum des Visual Departments war. Grob gesagt ist The Volume also eine moderne Form der guten alten Rückprojektion, bei der Schauspieler vor einem zuvor gefilmten Hintergrund agierten. Nur viel, viel moderner und akkurater.

Entwickelt wurde The Volume von den Effekt-Magiern von Industrial Light & Magic (ILM). Jene Firma, die George Lucas einst aus dem Boden stapfte, um die Spezialeffekte für seinen „Krieg der Sterne“ zu realisieren. Nur passend, dass The Volume dann erstmals für die erste Real-Serie aus dem „Star Wars“-Universum eingesetzt wurde. „The Mandalorian“ verblüffte gleich mit der ersten Staffel nicht nur durch eine tolle Space-Western-Atmosphäre, sondern hievte den Look einer TV-Serie gleich auf ein ganz neues Level. In Kombination mit realen Set-Elementen und „Star Wars“-typischen Kostümen entstand so die perfekte Illusion. In der letzten Episode der extrem sehenswerten DISNEY+-Doku „Light & Magic“ wird genauer auf The Volume eingegangen. Ebenso im Making-of von „1899“, welches NETFLIX bereitstellt, denn „1899“ nutzt diese wegweisende Technik als erste europäische Serie.

Aufgebaut wurde die ganze Apparatur im renommierten STUDIO BABELSBERG in Potsdam. In der Marlene-Dietrich-Halle, in der der damals bahnbrechende Stummfilm-Klassiker „Metropolis“ von Fritz Lang aus dem Jahr 1927 entstand, steht nun die gewaltige LED-Wand, die mit 7 Metern Höhe und einem Durchmesser von 23 Metern virtuelle Umgebungen auf 270° zaubert. Eine rotierende scheibe erlaubt es, gleich mehrere reale Set-Elemente aufzubauen und die Platte in kürzester Zeit neu an die LED-Wand auszurichten. Außerdem kann durch mehrere Sprinkleranlagen Regen simuliert werden, was gerade „1899“ ideal in die Karten spielt. Die DARK BAY Virtual Production Stage bleibt für weitere NETFLIX-Produktionen erhalten und soll auch an andere Studios ausgeliehen werden.

Auch in Sachen Sounddesign war man durchaus kreativ. Dass die bedrohliche Soundkulisse Erinnerungen an „Dark“ weckt, hatten wir schon angerissen. Ganz speziell ist jedoch, dass bereits fertige Musik durch den Rumpf eines ausgedienten Schiffes gejagt und dann nochmals aufgenommen wurde. So entstand eine außergewöhnliche Akustik, die der eh schon passablen Mystery-Atmosphäre von „1899“ zusätzlich eine Krone aufsetzt. Wie gesagt, es sind viele kleine Elemente, die erst in ihrer Summe die volle Kraft entfalten. Viele kleine Zahnräder, die ineinandergreifen. Da backen Jantje Friese und Baran bo Odar keine kleinen Brötchen und gehen perfektionistisch in die Vollen.

Plagiatsvorwürfe

Es dauerte aber nicht lange, bis man den Machern vorwarf, die Idee für „1899“ abgekupfert zu haben. Konkret brachte dies die brasilianische Comic-Künstlerin Mary Cagnin auf den Tisch… beziehungsweise in die sozialen Medien. Ihr 2017 veröffentlichter Independent-Comic „Black Silence“ soll in weiten Teilen identisch zur Serie sein. Nicht abzustreiten ist, dass in beiden Veröffentlichungen eine schwarze Pyramide eine einnehmende Rolle spielt. Auf das Setting, in dem in beiden Fällen eine internationale Crew agiert, möchte ich aus Spoiler-Gründen nicht genauer eingehen, doch wenn man kleinlich ist, müssten sich auch die Wachowskis, Roland Emmerich, Peter Weir, Jeremy Gillespie und einige andere Regisseure bei den „1899“-Schöpfern melden. Sogar Parallelen zu James Camerons „Titanic“ sind vorhanden. Doch wo hört man auf und wo fängt man an, wenn jede schon mal irgendwo aufgetauchte Szenerie gleich als dreiste Kopie behandelt wird? Etliche Autoren und Filmemacher hätten George Lucas für „Star Wars“ bis in eine weit, weit entfernte Galaxie verklagen müssen. Der ließ sich für seine Sternensage nämlich nicht nur von Werken Akira Kurosawas beeinflussen, sondern wurde auch von Fritz Langs „Metropolis“, Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“, Frank Herberts „Dune“ oder „Der Herr der Ringe“ aus der Feder Tolkiens inspiriert. Von „Star Trek“ möchte ich da gar nicht anfangen… und spätestens beim Pod-Race in „Episode I: Die dunkle Bedrohung“ wären „Ben-Hur“-Regisseur William Wyler die Augen rausgefallen.

Ich habe „Black Silence“ gelesen, erkenne in dieser kleinen, eher intimen Story aber nicht ansatzweise die Tragweite oder gar Komplexität, die „1899“ an den Tag legt. Jantje Friese und Baran bo Odar wiesen jegliche Vorwürfe zurück, haben sich laut eigenen Angaben aber mit der Künstlerin in Verbindung gesetzt. Sie hoffen, dass die Brasilianerin ihre Behauptungen zurücknimmt. Bloße Trittbrettfahrerei? Das mag Mary Cagnin wahrscheinlich nicht so sehen, ich persönlich sehe darin aber eine willkommene Gelegenheit, einen fünf Jahre alten Indie-Comic mal wieder ins Gespräch zu bringen. Einem Indie-Comic, der seinerseits Parallelen zu Paul W. S. Andersons „Event Horizon“ aufweist… nur mal so erwähnt.

Fazit

Nach dem internationalen Erfolg von „Dark“ waren die Erwartungen an das neuste Projekt des Dreamteams Friese/bo Odar immens hoch. Keinem Serienstart habe ich 2022 mehr entgegengefiebert. Die acht Folgen der ersten Staffel stoßen schon früh viele Türen auf, die im Laufe der Zeit immer größer werden. Durchschritten werden aber noch die wenigsten. Wird eine Antwort geliefert, hat diese gleich zwei weitere Fragen in Schlepptau. Ich mag diese verschachtele Mystery-Art sehr, kann aber nachvollziehen, wenn eine solch kryptische Schnitzeljagd nicht jedermanns Sache ist. Es ist definitiv noch Luft nach oben, um in „Dark“-Sphären vorzudringen, aber dafür sind mir die Charaktere noch zu fremd. Hervorragend und unter Pandemie-Bedingungen inszeniert, muss man den Machern aber schon jetzt zu einem weiteren Genre-Schwergewicht gratulieren. Trotz kleiner Abstriche sucht man ähnlich anspruchsvollen Mystery-Stoff nämlich meist vergebens.

Wertung: 8

Bilder: © Netflix. All Rights Reserved.

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