Film:
Im hohen Gras
Film-Kritik von Dr. Michael Drewniok / Titel-Motiv: © 2019 Netflix
Schwarze Übel lauern in grüner Üppigkeit
Begleitet von ihrem überfürsorglichen Bruder Cal macht sich Becky DeMuth auf den Weg nach San Diego. Sie ist im sechsten Monat schwanger, und Kindsvater Travis hat sich eindeutig ablehnend in der Frage nach elterlicher Unterstützung geäußert. Die Geschwister wollen deshalb potenzielle Adoptiveltern in Augenschein nehmen.
Sie reisen mit dem Auto - eine lange Fahrt, die durch den US-Staat Kansas führt. Ein Anfall von schwangerschaftsbedingter Übelkeit führt zu einem Stopp neben einer verlassenen Kirche, die an einem mit übermannshoch wachsenden, außerordentlich üppigen Grasfeld liegt. Während Becky loswird, war in ihrem Magen tobte, hört sie die Hilfeschreie eines kleinen Jungen, der sich „Tobin“ nennt und offensichtlich in dem Gras verlaufen hat. Hilfsbereit, aber ohne Plan stürzen sich Cal und Becky in die grüne Wildnis: Die Falle ist zugeschnappt!
Tobin ist der Sohn von Ross und Natalie Humboldt, die ebenfalls durch Hilferufe in das Feld gelockt wurden. Nun sind sie gefangen, denn in dem dichten Gras sind die Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft gesetzt. Immer wieder kommt es zu ‚Verschiebungen‘, weshalb es unmöglich ist einen Ausweg einzuschlagen. Hitze und Wassermangel machen den Gefangenen des Grases zu schaffen. Ross Humboldt, der im Zentrum des Feldes einen uralten, mit rätselhaften Zeichen übersäten Monolithen nicht nur gefunden, sondern auch berührt hat, stellt eine direkte Gefahr dar. Was den ‚Stein‘ beseelt, ist auf Ross übergesprungen, weshalb er seine entsetzte Familie und nun auch die Geschwister verfolgt und dem Monolithen ‚opfern‘ will.
Cal und Becky sterben - und sind aufgrund der grasfeldeigenen ‚Naturgesetze‘ doch lebendig. Immer wieder wird sie der besessene Ross töten. Der einzige Ausweg ist ein Durchbrechen dieses Teufelskreises. Das versucht der reuige Travis, der zwei Monate nach dem spurlosen Verschwinden von Cal und Becky deren Wagen vor der Kirche stehend findet - und sich doch von Hilferufen aus dem Feld in die bewährte Falle locken lässt …
Dynamisches Autoren-Duo (bzw. -Trio)
Wie der Vater, so der Sohn: Wenn ersterer Stephen King heißt, tritt letzterer sogar in der Mehrzahl auf. Früher als Owen King begann sich Joe Hill - der trotz des Nachnamens ein ‚echter‘ King-Spross ist - als Schriftsteller einen Namen zu machen, wobei Vater Stephen gern Unterstützung gab. 2012 schrieben die beiden die Erzählung „Throttle“ (dt. „Vollgas“). Noch im gleichen Jahr folgte „In the Tall Grass“ (dt. „Im hohen Gras“).
Schon kurz nach der Veröffentlichung der Novelle (als Zweiteiler im Männer-Magazin „Esquire“) interessierte sich der Drehbuchautor und Regisseur Vincenzo Natali für den Stoff. Ihm war 1997 der Durchbruch mit dem Spielfilm „Cube“ gelungen, der ihn als fantasiereichen, mit (esoterischen) Untertönen arbeitenden Filmemacher auswies, der die Beantwortung von Fragen gern seinen Zuschauern überließ. Mit Filmen wie „Cypher“ (2002) und vor allem „Splice - Das Genexperiment“ (2009) stellte er unter Beweis, dass es sich bei ihm nicht um ein „One-Day-Wonder“ handelte. Freilich arbeitete Natali in den folgenden Jahren primär für das Fernsehen.
Nach einigen Jahren in Hollywoods berüchtigter „Development Hell“ landete das Drehbuch für „Im hohen Gras“ - ebenfalls von Natali verfasst - beim Streaming-Dienst NETFLIX, der selbst Filme produziert und bereit ist auch Projekte anzugehen, deren Erfolg nicht bereits vor der ersten Drehklappe feststeht. Das Budget war schmal, was sich u. a. darin widerspiegelt, dass im kostengünstigen Kanada gedreht wurde und bekannte Namen (bis auf Patrick Wilson) oder gar „Stars“ fehlen. Mit solchen Einschränkungen war Natali vertraut, weshalb „Im hohen Gras“ an keiner Stelle Schwachstellen aufweist.
Alles Fleisch ist Gras
Dies liegt auch am Schauplatz: Bis auf wenige Szenen spielt diese Geschichte in einem Grasfeld. Das mag seltsam bzw. komisch klingen, sorgt jedoch nicht nur für eine denkbar preiswerte Kulisse - die man nur früh genug säen musste -, sondern auch für jene klaustrophobische Atmosphäre, die jede Gruselgeschichte benötigt. Wer sich jemals in ein Maisfeld gewagt hat, weiß Bescheid: Wenn dich überall Stängel umgeben und jedes Geländemerkmal fehlt, gibt es keine Orientierung mehr. Die Pflanzrichtung kann als Leitlinie hinaus genutzt werden, aber King/Hill und Natali haben dem einen Riegel vorgeschoben: Die Gesetzmäßigkeit von Himmelsrichtungen existieren in ‚ihrem‘ Feld nicht.
Stattdessen dient das Gras der Tarnung. Nur wenige Halmreihen entfernt können jederzeit unheimliche Kreaturen lauern, die über unsere verirrten Pechvögel herfallen. So geschieht es auch, wobei der daraus resultierende ‚Buh!-Effekt mit der Zeit ein wenig überstrapaziert wird: Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass uns im hohen Gras nicht nur das Grauen, sondern auch der Überdruss erwartet. King/Hill haben sich auf ein zwar unheimliches, dabei jedoch klar strukturiertes Horrorgarn beschränkt; man kann es auch „simpel“ nennen. Sie arbeiten mit bewährten Genre-Elementen, die sie mit ‚modernen‘ Splatter-Effekten (maßvoll) ‚würzen‘. Demnach steckt irgendwo in Kansas ein (außerirdischer?) Stein in der Erde, der über Wurzeln mit jenem Gras verbunden ist, das ihn verbirgt und schützt. Die menschliche Nachbarschaft weiß Bescheid und profitiert, indem sie die Hinterlassenschaften derer plündert, die ins Feld laufen, dem sie selbst sich tunlichst fernhalten.
Natali ist dies nicht genug. Er lädt sein Drehbuch mit Zwischentönen auf, die dem bei nüchterner Betrachtung recht mageren Plot nur selten bekommen. So begnügt er sich nicht mit dem Stein, dem ‚lebendigen‘ Gras und dem besessenen Ross Humboldt, sondern reichert den Schrecken u. a. mit gesichtslosen ‚Grasmenschen‘ an, die mehrfach auftreten, ohne für das Geschehen von Bedeutung zu sein. Überhaupt setzt Natali auf optisch eindrucksvolle Effekte, die isoliert bleiben. Wieso öffnet sich zu Beckys Füßen ein tiefer Spalt, in dem unter dem Stein nicht nur dessen ‚Wurzeln‘, sondern auch die darin gefangenen Opfer in unterschiedlichen Stadien der Verwesung sichtbar werden? Warum stolpern Cal, Becky, Travis und Tobin auf der Flucht in ein verlassenes Bowling-Center? Was sich dort ereignet, bleibt einmal mehr völlig unerheblich für die Handlung.
Böse oder einfach nur fremd?
Obwohl Natali immer wieder von der Vorlage abweicht, sollte man diese kennen, bevor man sich den Film anschaut. Natali überfordert womöglich sein Publikum, wenn er allzu zaghaft andeutet, weshalb sich neben dem Grasfeld eine ‚Kirche‘ erhebt. King/Hill erwähnen wie nebenbei, dass sich dort (immer noch?) Anbeter des Monolithen treffen. Diese Info hilft zu verstehen, was im Film das Finale darstellt, das bei Natali eher sinnlos wirkt. (Freundlicherweise wird an dieser Stelle die Frage ignoriert, wieso niemandem jemals aufgefallen ist, dass besagte Kirche von Automobilmodellen umstanden wird, die bis in die 1950er Jahre zurückgehen.)
Die Kritik liebt Filme, deren Handlungen Fragen stellen, die nur teilweise oder gar nicht beantwortet werden; dies gilt als Wertmaßstab, der an wache, intellektuell ebenbürtige Zuschauer gelegt wird. Natali lässt jedoch (s. o.) Erklärungslücken dort, wo sie nicht die Fantasie beflügeln, sondern sie ins Stolpern bringen. Zudem fehlt ihm der Mut, die Geschichte so finster, aber eben auch so konsequent abzuschließen wie King/Hill. Er zieht ein ‚versöhnliches‘ Ende vor, in dem das alte, ranzige Hollywood obsiegt: Schwangere Frau und Kind entkommen geläutert in eine bessere Zukunft.
Auch sonst stützt sich Natali auf bekannte, aber eben nicht nur bewährte, sondern auch ausgelaugte Effekte. Einerseits weiß er die Verbindung zwischen Gras und Blut glaubhaft in Szene zu setzen, andererseits lässt er das Blut einfach spritzen, wenn sich Monolithen-Handlanger Ross und seine Opfern prügeln. Solche Offensichtlichkeit schadet der angestrebten Doppeldeutigkeit. Leider mehren sich entsprechende Szenen in der zweiten Filmhälfte. Solange Cal und Becky im Gras stecken und allmählich begreifen, wie ihnen geschieht, ist „Im hohen Gras“ tatsächlich schaurig. Später wird ziemlich beliebiger Horror daraus.
Auge und Ohr, weniger das Hirn
Vielleicht sollte man das lästige, weil allzu viele Fragen stellende Hirn einfach ignorieren. „Im hohen Gras“ ist ein Fest für die Sinne. Der Begriff „Soundtrack“ trifft hier ins Schwarze, weil Komponist Mark Korven für eine Musik sorgt, die sich der Story unterordnet. Die akustischen Effekte fügen sich zu einem Klangteppich, der die Undurchdringlichkeit des Feldes und seine Bedrohung unterstreicht. Dies wird verstärkt, weil viele Szenen in der Nacht spielen. Kameramann Craig Wrobleski hat sich ins Zeug gelegt: „Dunkelheit“ ist ein Spiel aus Schatten und Nicht-Licht, hinter dem - nur einen Schritt außerhalb der Sicht - eindeutig etwas Schlimmes wartet.
Die Abwesenheit bekannter Schauspieler schonte nicht nur die Produktionskasse, sondern unterstützt die Illusion ganz ‚normaler‘ = von der Situation überforderter Zeitgenossen in einer Todesfalle. Man mag sie nicht kennen, doch die Darsteller leisten durchweg gute = überzeugende Arbeit. (Ausgerechnet der mehrheitlich gelobte Patrick Wilson hat diesem Rezensenten nicht gefallen; er greift auf Klischees zurück, um den liebenden Gatten/Vater zu mimen, der gleichzeitig ein leutselig-besessenen Mörder ist.)
„Im hohen Gras“ bleibt letztlich Stückwerk. Hohe Erwartungen werden geweckt, um nach und nach enttäuscht zu werden; dies zugegeben auf vergleichsweise hohem Niveau, doch beschönigt durch eine Kritik, die solche Einschränkungen anscheinend übersehen WILL. Auf Erkenntnisse, die sich jenseits des grauen Alltags aufgrund der Sichtung dieses Films einstellen, wartet zumindest dieser Rezensent jedenfalls bisher vergebens …
Film-Informationen
Originaltitel: In the Tall Grass (USA/Kanada 2019)
Regie u. Drehbuch: Vincenzo Natali
Kamera: Craig Wrobleski
Schnitt: Michele Conroy
Musik: Mark Korven
Darsteller: Avery Whitted (Cal DeMuth), Laysla De Oliveira (Becky DeMuth), Patrick Wilson (Ross Humboldt), Will Buie Jr. (Tobin Humbolt), Rachel Wilson (Natalie Humboldt), Harrison Gilbertson (Travis McKean)
Label/Vertrieb: NETFLIX
Erscheinungsdatum: 04.10.2019
Bildformat: 16 : 9 (2,35 : 1, anamorph)
Audio: Dolby Digital Plus (Deutsch), Dolby Atmos (Englisch)
Länge: 102 min.
FSK: 16
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