Nosferatu – Der Untote

Film-Besprechung von Yannic Niehr

Eine Sonate des Schreckens

Wisborg, 1838: Obwohl seine Frau Ellen (Lily Rose-Depp) , von düsteren Todesvisionen geplagt, ihn bekniet, bei ihr zu bleiben, reist der junge Makler Thomas Hutter (Nicholas Houlter) auf Geheiß seines Vorgesetzten Knock (Simon McBurney) nach Transsilvanien in die tiefsten Karpaten, um einen Vertrag von Graf Orlok (Bill Skarsgård) unterzeichnen zu lassen, der von seiner ruinösen Burg in ein verlassenes Gut nahe Thomas‘ Zuhause umsiedeln will. Der Auftrag scheint lukrativ und bringt vielversprechende Karrierechancen mit sich – eine gute Grundlage fürs Gründen einer eigenen Familie. So bleibt Ellen in der Obhut ihrer Freundin Anna Harding (Emma Corrin) und deren Mann Friedrich (Aaron Taylor-Johnson) zurück, während Thomas sich auf Pferderücken auf den Weg macht. Kurz vor seinem Abschied schenkt sie ihm eine kleine Brosche mit einer Locke ihres Haars darin, als Zeichen ihrer Zuneigung.

In Transsilvanien angekommen, häufen sich für Thomas bald die seltsamen Vorkommnisse: Die Landbevölkerung wirkt verstört, als sie von seinen Plänen erfährt, Burg Orlok aufzusuchen; des nachts wird er Zeuge eines höchst seltsamen Rituals im Dorf; eine schwarze Kutsche ohne Kutscher erscheint wie von Geisterhand und bringt ihn zur Burg; und auch der exzentrische, finstere Graf selbst, mit dem Thomas dort scheinbar ganz allein verweilt (von erwähnten angeblichen Bediensteten fehlt jede Spur), wird ihm schnell mehr als unheimlich. Orlok scheint es eilig zu haben, die Papiere zu unterschreiben, und wirkt ganz besonders fasziniert von der Brosche mit Ellens Haar, was nicht gerade dazu beiträgt, Thomas‘ Unwohlsein zu verringern. Die bizarren Ereignisse spitzen sich zu, und spätestens als Thomas den Grafen tagsüber in der Krypta schlafend im Sarg vorfindet, kann er nicht mehr verdrängen, dass es sich hier wohl kaum um einen Menschen handelt! Längst ist Thomas zu Orloks Gefangenem geworden. Doch gelingt ihm die Flucht, und er heftet sich an die Fersen des Grafen, der bereits auf der „Demeter“ nach Wirsborg überschifft.

Vor Ort stapeln sich in Dr. Sievers‘ (Ralph Ineson) Krankenhaus bald die Todesfälle: Die Pest hat in Wisborg Einzug gehalten! Währenddessen wird Ellen wieder von ihrer früheren Schwermut belastet, etwas absolut Dunkles scheint sich in ihr einzunisten und sie zu zerfressen, ergreift gar Besitz von ihr. Als Tod und Verderben immer wilder um sich schlagen und ungewöhnliche Bisswunden an den Menschen entdeckt werden, sieht Sievers nur noch eine Hoffnung: Prof. Albin Eberhard von Franz (Willem Dafoe), seinen alten Mentor aus Studientagen, der aufgrund seiner Expertise für den Okkultismus aus dem wissenschaftlichen Dienst ausgeschlossen wurde. Er ist sich sicher: Man hat es hier mit einem Vampir zu tun! Doch gibt es noch eine Möglichkeit, dieses übermächtige Böse aufzuhalten ..?

„We are here encountering the undead Plague Bringer … the Vampyre … Nosferatu!“

Friedrich Wilhelm Murnau drehte Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens 1922, bevor so etwas wie ein Horror-Genre überhaupt existierte. Trotzdem lässt sich eine nachhaltige Einflussnahme auf das, was man heutzutage den „Horrorfilm“ nennt, nicht leugnen. Die dem Deutschen Expressionismus entlehnte Darstellungsweise von verwinkelten Schatten und harten Kontrasten (auch in vielen von Nosferatus „cineastischen Zeitgenossen“ zu sehen; man denke z.B. an Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari – dessen Hauptdarsteller Conrad Veidt anfangs sogar für die Rolle des Orlok im Gespräch war) fand auch im späteren film noir Einzug. Kontrovers diskutiert wurde der Film auch wegen eines Urheberrechtsstreits, handelte es sich doch um eine unautorisierte Fassung von Bram Stokers 1897 veröffentlichtem archetypischen Vampirroman Dracula. Dies ließ sich trotz veränderter Namen und Schauplätze nur schwer verleugnen, weswegen Stokers Witwe seinerzeit die Vernichtung sämtlicher Kopien des Films anordnete, sodass Nosferatu beinahe jenes Schicksal zuteil geworden wäre, das so viele Filme der Stummfilmära teilten, nämlich: für immer verloren zu gehen.

Dass wir Murnaus Werk heute noch bestaunen können, ist schieres Glück. Dabei darf eine weitere Person neben Murnau nicht unerwähnt bleiben, die Nosferatu gleichermaßen geprägt hat: Produzent Albin Grau, der die Idee zu dem Stoff auf Grundlage eines Kriegserlebnisses entwickelte. Als Multitalent übernahm er die künstlerische Leitung in gleich mehreren Gewerken, entwarf das Promomaterial und wurde somit sogar Schöpfer des bis heute ikonischen Looks Graf Orloks.

Eine erotisierende Komponente, welche beim späteren Hollywoodvampir und der Twilight-Generation wieder aufgegriffen werden sollte, bleibt bei Murnau aus: Orlok ist ein waschechtes Monster (trotzdem gelingt es dem eingefleischten Schauspieler Max Schreck, ihn mit einem Hauch von Einsamkeit und Melancholie zu umwehen). Die düstere und in punkto Schnitt- und Kameratechnik stellenweise fast modern anmutende Ästhetik des Films ist durch und durch vom Tod durchsetzt und durchdrungen. Der in der unbekannten Fremde vorgefundene leibhaftige Tod folgt sogar bis zurück in die vermeintlich sichere Heimat Wisborg (übrigens eine fiktive Stadt) und bringt wie ein apokalyptischer Reiter Seuche und Verfall mit sich. In einer geradezu endlosen Prozession werden Särge durch die Straßen getragen. Die Menschen verkennen die Gefahr als die Pest (visuell repräsentiert durch die allgegenwärtigen Ratten; gleichzeitig eine Verbindung zum Vampirmythos: Vampire können sich angeblich u.a. in Ratten verwandeln). Man sieht sich hier also machtlos einer bislang ungekannten Form von Massensterben gegenüber – eine mögliche Allegorie für die Zeit des Ersten Weltkriegs, der Tod und Zerstörung in einem zuvor nicht denkbaren Ausmaß verursachte und entsprechende Spuren in der kollektiven Psyche hinterließ.

1979 setzte ein Remake von Werner Herzog mit Klaus Kinski in der Hauptrolle (nunmehr wieder Dracula genannt) andere Schwerpunkte, während E. Elias Merhiges Shadow of the Vampire im Jahre 2000 eine makabre Hommage schuf, die einen von John Malkovich gespielten Murnau gegen einen Max Schreck ausspielt, der hier (getreu eines dem echten Max Schreck zeitweise anhaftenden Gerüchts) tatsächlich ein Vampir ist. Und von Willem Dafoe verkörpert wird, der damit innerhalb von 25 Jahren sowohl die Gruselfigur als auch – full-circle – deren Widersacher spielen durfte; Letzteres nunmehr in Robert Eggers‘ soeben in den deutschen Kinos erschienen Neuverfilmung. Eggers, der sich mit Titeln wie The VVitch und The Ligthouse (ebenfalls mit Dafoe) in der aktuellen New-Wave des Horrors längst neben Größen wie Jordan Peele (Get Out, Us) und Ari Aster (Hereditary, Midsommar) etablieren konnte, sah den Meilenstein der Filmgeschichte von 1922 mit zarten 8 Jahren (eine Menge nächtlicher Albträume inklusive). Seitdem war er fasziniert von der Idee einer Neuverfilmung, nunmehr schon lange angekündigtes Herzensprojekt, das einen ebenfalls langen und problematischen Produktionsprozess zu durchlaufen hatte und bereits im Vorfeld für Furore sorgte. Wie aber ist nun dieser neue Nosferatu. Der Untote?

„Does evil come from within us, or from beyond?“

Der Film ist gleichzeitig alles, was man von einem Eggersschen Nosferatu-Remake erwarten würde, und etwas ganz anderes. Natürlich kann er sich nicht mit dem filmhistorischen Ausnahmestatus schmücken, den Murnaus Werk bis heute innehat. Und sicherlich wird es Kritiker geben, die den Film schon allein aufgrund dieser Tatsache abstrafen. Auch wenn sich Vergleiche bei Remakes selten komplett vermeiden lassen, lohn es sich In jedem Fall, die Neuverfilmung als eigenständiges Werk zu betrachten.

Schon in seinem Horrordebut The VVitch stellte Eggers 2015 unter Beweis, dass er nicht nur äußerst detailverliebt arbeitet, sondern Elemente des Folk sowie des Gothic Horror mit seinem ganz eigenen Stil unaufgeregter Erzählweise, langer Kamerafahrten und intimer Nahaufnahmen gepaart mit plötzlich ausbrechenden Momenten puren Entsetzens verweben kann, um damit eine unverwechselbare ästhetische Marke zu schaffen. Dieser Stempel ist auch Nosferatu. Der Untote aufgedrückt, der jedoch weitaus epischer angelegt ist, eine überbordende Schauermär mit simplem narrativem Gerüst (bis auf wenige Änderungen sehr nah an der Vorlage orientiert) und überraschender Tiefe. Respektvoll verbeugt sich Eggers vor Murnaus Film, wenn der Schatten des Vampirs bedrohlich seine Hand ausstreckt. Auch die Farbpalette mit kalten Grautönen, an Sepia erinnernden Feuerszenen und einer Menge Tiefschwarz ruft Assoziationen mit dem Stummfilm hervor – selbstverständlich ergänzt durch sehr viel Blutrot. Es verwundert, dass Eggers auf so viele Jump Scares setzt, denn der Film überzeugt vor allem durch seine von der kongenial komponierten Musik unterstrichene dichte, teils beinahe unwirkliche Atmosphäre. Der Schatten Orloks, der sich in den Vorhängen von Ellens Schlafzimmer zeigt; der großartig belichtete Schattenriss von Hutter und der fahrerlosen Kutsche im Wald; das symbolträchtige, einfühlsam komponierte Schlussbild – der Film wimmelt nur so von Einstellungen, die sich tief ins Gedächtnis graben. Nur der häufige Gebrauch von CGI, z.B. für die Panoramaaufnahmen, stört gelegentlich das trotz Exzess vorrangig auf geerdeten Realismus setzende Feeling.

„You awakened me from an eternity of darkness. You … you are not for the living. You are not for human kind“

Thematisch setzt Eggers völlig andere Akzente. Dies beginnt schon damit, dass Ellen Hutter von der ersten Einstellung an als Protagonistin aufgebaut wird. Zwar war sie auch im Original eine Schlüsselfigur, nahm aber keine derart zentrale Rolle im Großteil der Filmerzählung ein. In Eggers‘ Nosferatu ist es Ellen, die mit ihren Wünschen und Sehnsüchten eine urtümliche Kreatur in der weiten Ferne erweckt, die daraufhin eine telepathisch-sexuelle Verbindung mit ihr eingeht. Anfangs findet sie Gefallen daran, doch nimmt sie den Einfluss dieses Wesens zunehmend als unterdrückend und missbräuchlich war. Erst ihre liebevolle Beziehung zu Thomas kann dessen Einfluss kappen. Dieser wird jedoch prompt erneuert, als Thomas den Auftrag annimmt, zu Graf Orlok im fernen Transsilvanien zu reisen, der anschließend in ihre Heimat übersiedelt.

In dieser Version hat Orlok ein klares Ziel: seine jenseitige Beziehung zu Ellen zu erneuern und sie sich ihm wieder untertan zu machen, ob sie will oder nicht. Die gewaltsame, alles verschlingende Präsenz stürzt Ellen in schlimmere Abgründe als je zuvor –von ihrem männlichen Umfeld natürlich als Hysterie abgetan und mit Äther behandelt. Letztlich ist es Professor von Franz, der ihr übernatürliches Potenzial erkennt – dessen sie selbst sich sehr bewusst ist – und gemeinsam mit ihr einen Plan fasst, den Fluch durch ein liebevolles, selbstloses, transzendentales Opfer zu brechen.

Man kann den Film also unter dem Gesichtspunkt von Motiven männlichen Missbrauchs und Selbstbestimmtheit weiblicher Sexualität entschlüsseln. Er lässt sich aber auch lesen als Metapher für Trauma als ein Schatten der Vergangenheit, der einen in der Gegenwart nicht loslässt, unablässig mit Gefühlen von Scham, Schuld und Schrecken quält und nur durch Selbstermächtigung, Halt und Liebe ausgetrieben werden kann. Diese thematische Vielschichtigkeit (mit denen Eggers auch andere Einträge seines Œuvres ausgestattet hat), im zeitgenössischen Horror geradezu erwartet, ist schmückendes Beiwerk, denn der Film funktioniert auch auf rein sinnlicher Ebene. Dennoch wird damit eine interessante Grundlage für mannigfaltige Interpretationen sowie Vergleiche mit dem Original geschaffen. Sie verleiht Nosferatu. Der Untote zudem eine Aura der Traurigkeit, die dem Genre des Gothic nur angemessen ist. Eggers gibt sich stellenweise beinahe schamlos romantisch – trotz der nackten Haut, dem Blut und den Ekeleffekten, von welchen der Film nicht gerade wenig zu bieten hat.

„I am an appetite, nothing more“

Eine der größten Stärken des Films sind die darstellerischen Leistungen, denn hier gibt es praktisch kein schwaches Glied in der Kette. Hoult gelingt es glaubhaft, einen naiven Hutter zu zeichnen, dessen Weltsicht durch die Konfrontation mit blankem Grauen plötzlich zutiefst erschüttert wird und der sich schließlich aber zu dem Mann wandelt, den Ellen an ihrer Seite braucht. Corrin als Ellens Freundin Anna Harding möchte blind gegenüber der Dunkelheit bleiben, die um sie kreist, und fällt ihm schließlich in einer unvergesslichen Szene zum Opfer. Taylor-Johnson gibt als Annas Ehemann Friedrich Harding einen überzeugenden Geschäftsmann, der erst Haltung und Fassung verliert, als seine eigene Familie dem widernatürlichen Terror zum Opfer fällt; die Tragik des Geschehenen und die schmerzhafte Auflösung der Verdrängung dringen ihm aus jeder Pore. Dafoe bringt als Prof. von Franz einen überraschenden, aber gern gesehenen Anflug von Witz, Charme und Wärme in den Film, auch wenn ebenfalls klar zu sehen ist, dass die Figur sich obsessiv in ihren okkulten Interessen verrannt hat und gegenüber dem, was um sie herum geschieht, nicht immer durch und durch einfühlsam ist. Ineson und McBurney sind als die Stimmung unterfütternde Nebendarsteller solide.

Allerdings sind auch bei den Schauspielern klare Stand-Outs zu nennen: Zum einen geht Lily Rose-Depp als Ellen Hutter an geistige und physische Grenzen – eine Performance, die man von ihr nicht erwartet hätte und die neugierig darauf macht, was noch alles in ihr steckt. Würde das Horrorgenre bei den Oscars nicht weiterhin so konsequent ignoriert werden, könnte sie mit einer Nominierung rechnen. Zum anderen gilt besonderes Interesse natürlich Bill Skarsgård als Graf Orlok. Sein Design verrät gewisse Anleihen an Max Schrecks Grafen, ist aber größtenteils ein gänzlich anderes Biest. Seine Ausstrahlung verrät Imposanz und Wucht, ohne dass er diese übertrieben zur Schau stellen müsste. In seinem fahlen, verrottenden Äußeren (großes Lob an die Maske!) erkennt man den Untoten. Der polarisierende Schnurrbart, der bei einem echten Edelmann seiner Abstammung und Epoche aber nicht hätte fehlen dürfen, verleiht ihm dennoch eine gewisse Authentizität, womit seine Darstellung der Beschreibung des ursprünglichen Grafen Dracula in Stokers Roman von allen bisherigen am nächsten kommt. Insbesondere ist aber die Stimmarbeit hervorzuheben (Skarsgård absolvierte dafür Stimmtraining bei einem professionellen Opernsänger): Er spricht hier (zwischendurch originalgetreu in der ausgestorbenen Dakischen Sprache) in einem rauen, einige Oktaven tieferen, schwer atmenden, fast gutturalen Ton, der leise einem Schauer über den Rücken jagt und laut uneingeschränkten Gehorsam gebietet. Für diejenigen, die einen zweiten Pennywise vermutet haben: Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Skarsgård komplett in der Figur verschwindet.       

Fazit

Robert Eggers‘ Nosferatu. Der Untote glänzt in allen filmtechnischen und schauspielerischen Belangen. Die düstere, schwere Schauermär ist ab und an etwas übertrieben (hier lässt Francis Ford Coppolas Bram Stoker’s Dracula grüßen), schafft aber zumindest eine viszerale Experience, die sich erfreulicherweise traut, inhaltlich und thematisch ganz eigene Wege zu gehen. So kann der Film neben dem unerreichten Original auf eigenen Beinen bestehen und überzeugen und damit sowohl für Kenner von Murnaus Werk als auch für völlige Neulinge interessant sein. Ein Horrorfilm, über den man aus vielerlei Gründen noch lange sprechen wird – und den man alleine schon deswegen nicht verpassen sollte!

Bilder: © Universal Pictures

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