Last Night in Soho
Film-Kritik von Marcel Scharrenbroich / Titel-Motiv: © Focus Features
…wherever it may take me, I know that life won't break me…
Eloise hinter den Spiegeln
Vom ländlichen Cornwall hinein in die Großstadt… oder von der Landzunge in den gierigen Schlund Londons. Anlaufstelle für Kreative, Freigeister und Künstler mit hohen Ambitionen. Hier soll sich Eloises (Thomasin McKenzie) Traum verwirklichen. Unbedingt möchte sie in die Fußstapfen ihrer verstorbenen Mutter treten und dort Modedesign studieren. Als sie die Zusage vom College of Fashion bekommt, gibt ihr ihre Großmutter Peggy (Rita Tushingham) noch die besten Wünsche mit auf den Weg… und mahnt Ellie zur Vorsicht. Schließlich kann die Großstadt mit ihren Reizen und Versuchungen ziemlich überwältigend sein. Führ ihre introvertierte Art ziemlich mutig, stürzt die angehende Modedesignerin sich ins Abenteuer und bricht auf.
Aller Anfang ist bekanntlich schwer, und das muss auch Ellie schnell erfahren. Ihre Mitbewohnerin Jocasta (Synnøve Karlsen) entpuppt sich als falsche Schlange und macht das Landei bei den Mitstudierenden schlecht. Auch fürs wilde Nachtleben im Szene-Viertel scheint Ellie nicht gemacht zu sein. Sie handelt und ergreift die Flucht. Jedoch kehrt sich nicht entmutigt nach Cornwall zurück, sondern sucht sich eine neue Bleibe. Dank einer Annonce findet sie ein kleines Zimmer bei der betagten Miss Collins (Diana Rigg). Hier findet sie die nötige Ruhe, ganz ohne dröhnende Partys und anzügliche Kerle, die sich in Feierlaune Mut angetrunken haben. Als Fan der Sixties kann sie sich in dem urigen Dachgeschoss-Zimmer frei entfalten und träumt sich mit alten Vinyl-Scheiben in ihr Lieblings-Jahrzehnt. Und zwar sehr intensiv…
In ihren Träumen reist Ellie in die pulsierenden 60er-Jahre. Aus der Sicht der selbstbewussten Sandy (Anya Taylor-Joy) stürzt sie sich in die Szene und tanzt nächtelang durch Sohos angesagteste Bars und Clubs. Stets unter Beobachtung der gierigen Verehrer, die das Party-Girl mühelos um den Finger wickelt. So erregt sie auch die Aufmerksamkeit des charismatischen Szene-Kenners Jack (Matt Smith). Er nimmt sich ihrer an und eröffnet Sandy eine große Zukunft auf den Bühnen von Sohos In-Locations. Am Tag schöpft Ellie Inspiration aus den nächtlichen Ausflügen. Das sorgt für weiteren Unmut bei den zickigen Studentinnen, verschafft ihr aber die Aufmerksamkeit der Dozentin Miss Tobin (Elizabeth Berrington). Außerdem scheint der sympathische Student John (Michael Ajao) ein Auge auf die schüchterne Ellie geworfen zu haben. So wendet sich also doch noch alles zum Guten…
Nun… nicht ganz. Denn die Kurztrips in die Swinging Sixties dehnen sich bald nicht nur auf die Nacht aus. Immer mehr scheinen Traum und Realität ineinanderzulaufen. Der toxische Kreislauf der Scheinwelt, in die Sandy durch falsche Versprechungen geriet, kratzt immer tiefer an den dünner werden Wänden zur Gegenwart. Ellies Träume werden zu Alpträumen und Sandys Schicksal scheint unausweichlich mit Ellies verknüpft zu sein.
Das A und O
Machen wir uns nichts vor, Hollywood scheinen im Großen und Ganzen immer mehr die Ideen auszugehen. Legacy-Sequels, in denen angestaubte Franchises dank Gastauftritten der Alt-Stars neues Leben für eine neue Generation eingehaucht wird, sind der aktuellste Trend. Siehe „Halloween“, „Ghostbusters: Afterlife“, die letzte „Star Wars“-Trilogie, jüngst „Scream“ oder der kommende Abschluss der „Jurassic World“-Saga. Abseits von Comic-Verfilmungen, Fortsetzungen und Realfilm-Adaptionen von Zeichentrick-Klassikern und Animes gibt es kaum noch Regisseure - und noch weniger große Studios -, die mutig genug wären, Storys mit Ecken und Kanten zu erzählen. Dem leidlich zuckenden Mainstream noch etwas Begeisterung abzuringen zahlt sich außerhalb von Festivals und Arthouse-Kinos kaum noch aus, da nur noch Massenware zu zählen scheint, die schnellstmöglich die Milliarden-Marke durchbricht…, was selbst für Blockbuster außerhalb von Corona-Beschränkungen fast schon größenwahnsinnige Züge trägt. Ach ja, politisch korrekt und möglichst vielfältig sollte es dazu auch noch sein, um sich keinen Shitstorm von selbsternannten Moralaposteln einzufangen. Selbst wenn dafür Vorlagen umgekrempelt oder gar die Geschichtsbücher neu geschrieben werden müssen. Authentizität ist ein No-Go geworden, während man sich stolz auf die Schultern klopft und am Ende doch nur scheinheilig die Kohle zählt, die das neuste Machwerk über sämtliche Veröffentlichungsplattformen einfährt. Da lobt man sich doch den harten Kern kreativer Filmemacher, denen man das Herzblut bei jedem neuen Projekt sofort anmerkt. David Fincher, Christopher Nolan, Paul Thomas Anderson, David Robert Mitchell, Denis Villeneuve, Sam Mendes, um mal ein paar Regisseure mit Visionen zu nennen… oder eben Edgar Wright.
Der britische Regisseur, Drehbuchautor und Produzent erlangte vor allem durch seine nicht aufeinander aufbauende Cornetto-Trilogie (bestehend aus „Shaun of the Dead“ (2004), „Hot Fuzz“ (2007) und „The World’s End“ (2013)) mit dem kongenialen Darsteller-Duo Simon Pegg („Sar Trek“, „Mission: Impossible“) und Nick Frost („Attack the Block“, „Fighting with My Family“) große Aufmerksamkeit. Vollkommen verständlich, da seine Art des Filmemachens durchaus eine ganz eigene Handschrift trägt. Ähnlich den Werken von Sam Raimi oder Quentin Tarantino merkt man sofort, dass jemand am Ruder ist, der sein Handwerk versteht. Wright hat sich dabei stets weiterentwickelt, was man auch in „Last Night in Soho“ zu sehen bekommt. Neben dem authentischen Look und dem schon fast spielerischen Wechsel von der Gegenwart in Londons Sixties, hat der Brite einen bemerkenswerten Cast vor der Kamera versammelt, um das von ihm (und seiner Mit-Autorin Krysty Wilson-Cairns) verfasste Drehbuch perfekt auf die Leinwand zu bringen.
Angefangen mit den aufstrebenden Jung-Stars Thomasin McKenzie und Anya Taylor-Joy. McKenzie spielte bereits stark in Taika Waititis genialem „Jojo Rabbit“ (zu sehen auf DISNEY+) und war an der Seite von Benedict Cumberbatch und Kirsten Dunst in „The Power of the Dog“ (aktuell auf NETFLIX) zu sehen. In „Last Night in Soho“ verkörpert sie glaubhaft die schüchterne Eloise, die immer tiefer in den „Kaninchenbau“ gezogen wird, was auch ohne das Zutun von Lewis Carroll gehörig an ihrer labilen Psyche kratzt. Carrolls „Wunderland“ wird hier des Öfteren referenziert, was vor allem durch die geniale Kameraarbeit von Chung Chung-hoon („Oldboy“, „ES“ und die kommende „Uncharted“-Verfilmung) visualisiert wird. Komplett gegensätzlich zu McKenzies Charakter, swingt sich Anya Taylor-Joy mit einer starken Leinwand-Präsenz durch die detailverliebten Sixties-Sets. Mit stechendem Blick und Femme-fatale-Auftreten ist ihr intensives Schauspiel auf den Punkt. Nicht erst seit ihrer herausragenden Leistung im NETFLIX-Hit „Das Damengambit“ (2020) ist die gebürtige US-Amerikanerin eine Art Allzweckwaffe in der Film-Landschaft. 2015 überzeugte sie bereits in der A24-Produktion „The Witch“, M. Night Shyamalans „Unbreakable“-Nachfolgern „Split“ (2016) und „Glass“ (2019), sowie im untergegangenen Superhelden-Horror „The New Mutants“. In historischen Stoffen scheint sich Taylor-Joy zudem wohlzufühlen, da es sie nach dem Drama „Marie Curie - Elemente des Lebens“ (2019) und der humorvollen Jane Austen-Adaption „Emma“ (2020) in diesem Jahr mit „The Northman“ noch weiter in die Vergangenheit katapultieren wird.
Neben den beiden Leading-Ladies ist „Last Night in Soho“ aber bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzt. Als Vermieterin Miss Collins hat Diana Rigg („Mit Schirm, Charme und Melone“, „James Bond 007 - Im Geheimdienst Ihrer Majestät“, „Game of Thrones“) ihren letzten großen Auftritt. Die britische Schauspielerin verstarb im September 2020 im Alter von 82 Jahren. Wright widmete ihr den Film. Dann wäre da noch der fantastische Terence Stamp, mit dem viele mit Sicherheit noch den gnadenlosen General Zod aus den ersten klassischen „Superman“-Filmen verbinden. Von „Link - Der Butler“, über „Wall Street“ bin hin zum Neo-Western „Young Guns“ findet sich seit den frühen 60ern keine nennenswerte Lücke in seinem beeindruckenden Lebenslauf. Als mysteriöser Mann, der über alle Geschehnisse auf dem Laufenden zu sein scheint, gibt er sich in „Last Night in Soho“ herrlich undurchsichtig. Nicht unerwähnt soll Matt Smith bleiben. Der Brite, der erst 2010 mit Englands Nationalgut „Doctor WHO“ so richtig durchstartete, darf hier den zwielichtigen Verführer mimen, was auch sehr gut funktioniert. Zuletzt sah man ihn unter anderem im Polit-Thriller „Official Secrets“ (2019) oder als Sektenführer Charles Manson in „Charlie Says“ (2018). Tiefer kann man eigentlich nicht sinken, aber seine Darstellung des Jack schafft es, dass man ihm ordentlich auf die Schnauze hauen möchte. Nichts für ungut, Doctor.
Swing it, Baby!
Über zwei wichtige Hauptrollen sollte noch gesprochen werden. Zum einen ist dies die grandiose Kulisse von London, die nicht nur im Film einen Blick wert ist. Sowohl in der Gegenwart als auch in pulsierenden Sixties-Sets packt einen gleich das Fernweh. Da Regisseur Wright unmittelbar dort beheimatet ist, ist es wohl seine ganz persönliche Liebeserklärung ans Londoner West End. Eine äußerst gelungene, denn Szenenbildner Marcus Rowland (Wrights Stamm-Production Designer und zuständig für den Elton John-Biopic „Rocketman“) hat hier ganze Arbeit geleistet. Zusammen mit dem Kostüm-Design von Odile Dicks-Mireaux („Chernobyl“, „Goodbye Christopher Robin“) erwachen die 60er stilecht zum Leben und sorgen mit gelungener Ausleuchtung für nahtlose Zeitreisen mit surrealistischem Touch.
Die weitere Hauptrolle zieht sich wie ein roter Faden durch Edgar Wrights Werke: die Musik. Schon seit seiner international produzierten Comic-Adaption „Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt“ (2010) ein wichtiger Bestandteil, funktionierte Wrights „Baby Driver“ (2017) fast ausschließlich durch das Zusammenspiel von Bild und Ton. Der Soundtrack war aktiver Teil der Handlung und trug diese förmlich voran. Die perfekt choreographierten Actionszenen passten sich dem jeweiligen Song an, was man zuvor höchstens aus stylish geschnittenen Trailern - wie dem passend auf QUEENs „Bohemian Rhapsody“ getrimmten Trailer zu „Suicide Squad“ (2016) - kannte. In „Last Night in Soho“ kommt die musikalische Wichtigkeit erstmals während einer Studenten-Party zum Tragen. Wir hören dominant aus Ellies Kopfhörern „Starstruck“ von THE KINKS, während sich wie bei einem Mash-up die treibenden Beats der Party dumpf im Hintergrund hineinmischen. Die erste Szene, in der die Sixties mit der Gegenwart kollidieren, noch bevor wir visuell in diese Zeit eintauchen. Großartige Detail-Arbeit, die handwerkliches Geschick und Können beweist. Man muss noch nicht mal Fan von 60er-Jahre-Musik sein, um sich mitreißen zu lassen. Das passiert fast schon automatisch. Und es fällt schwer, Songs wie SANDIE SHAWs „Puppet on a String“ oder PETULA CLARKs „Downtown“ nach dem Abspann aus dem Kopf zu bekommen. Letzterer wird im Film sogar von Anya Taylor-Joy interpretiert und wurde vorab bereits veröffentlicht.
Fazit:
„Last Night in Soho“ lässt sich schwer in eine Genre-Schublade pressen. Im Kern ein waschechter Mystery-Thriller, mischt er Drama-Elemente mit psychologischem Horror, harmoniert perfekt in Bild und Ton, ist zeitgleich Sittengemälde und Liebesbrief an die Swingin‘ Sixties auf Londons Szene-Meile… und zieht jeden in den Bann, der sich durch die pulsierende Nacht treiben lässt. Ein großer Wurf und ein weiterer Meilenstein in Edgar Wrights Filmografie.
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