Irati - Age of Gods
and Monsters
Film-Besprechung von Michael Drewniok
Ende des 8. Jahrhunderts beginnt Frankenkönig Karl der Große mit der Christianisierung Spaniens. Die muslimischen Mauren halten das Land besetzt; sie sollen vertrieben und ausgerottet werden. Spanier, die sich mit den Sarazenen friedlich arrangiert haben, gelten als Verräter und werden von den fanatischen Franken attackiert.
So ergeht es auch den Bewohnern des Tals von Ebro. Es liegt in den baskischen Pyrenäen und wird vom Fürsten Eneko regiert. Als dieser erkennt, dass er den Franken nicht widerstehen hat, schwört er dem Christengott ab und wendet sich hilfesuchend an die halb vergessene Erdgöttin Mari, die ihn tatsächlich erhört, aber sein Leben als Preis für die Vernichtung der Feinde fordert. Eneko akzeptiert, siegt und stirbt; sein gleichnamiger Sohn ist noch ein Kind und wird ins Ausland geschickt, um dort erzogen und ausgebildet zu werden.
15 Jahre später kehrt der jüngere Eneko ins Tal zurück. Dort hat sich der tückische Edelmann Belasko als Usurpator in Stellung gebracht. Seine Chancen stehen gut, denn die Bürger wollen nur einen wahren Christen als ihren Herrscher annehmen. Dass Enekos Vater sich mit der heidnischen Mari eingelassen hat, wird dem Sohn zum Vorwurf gemacht. Als im Grab des Vaters nur die Knochen eines Schafbocks gefunden werden, ist sein Schicksal besiegelt.
Jetzt bleibt nur Eneko die Chance, Mari in ihrer Höhle aufzusuchen und um die Herausgabe der echten Gebeine zu bitten. Acht Tage Zeit geben ihm die Bürger. Um die Göttin zu finden, setzt Eneko auf die Hilfe der geheimnisvollen Irati. Sie haust im Wald mit der ‚Hexe‘ Luxa und verbirgt das Geheimnis ihrer Herkunft nicht grundlos vor den frommen, intoleranten Christen.
Eneko steht ein Gang bevor, der ihn nicht nur über die Grenzen seines Glaubens hinaus führt. Mari ist sehr real, und ihre seltsamen, gruseligen und gefährlichen „Kinder“ sind es ebenfalls. Außerdem gedenkt Belasco sein Glück nicht dem Zufall zu überlassen. Er verfolgt Eneko und Irati mit einer Mörderschar in die Wildnis ...
An der Schwelle zur geisterfreien Moderne
Das Jahr 793, in dem die Handlung dieses Film hauptsächlich spielt, liegt weit zurück in einer Vergangenheit, deren reale Verhältnisse heute nur noch Fachleuten bekannt sind. Dabei gibt es große Lücken, denn die (schriftliche) Überlieferung ist dünn und/oder unzuverlässig, und auch die archäologischen Quellen sind keineswegs eindeutig. Was die Fachleute frustriert, sehen Geschichtenerzähler als Chance. Für sie sind die Lücken Nischen, in denen sie eine parallele, nicht unbedingt der Wahrheit entsprechende, aber spannende Historie verankern können.
Die Christianisierung Europas war ein Prozess, der sich über Jahrhunderte hinzog und im Rückblick vor allem aufgrund der im Namen des „Herrn“ begangenen Gräuel im Gedächtnis blieb. Der ‚neue‘ Gott traf nicht auf primitive ‚Heiden‘, die Menschen auf Steinaltären opferten und dazu tanzten, sondern war zunächst nur ein Konkurrent, dessen Anhänger auf Gemeinschaften mit eigenen, detaillierten Glaubensvorstellungen trafen. Diese verschwanden, weil die Christen sie gewaltsam unterdrückten und zusammen mit dem Wissen um ihre Religionen austilgten.
An diesem Punkt hakt Regisseur und Drehbuchautor Paul Urkijo Alijo ein. Er stammt aus dem spanischen Baskenland, das auf eine lange und eigenständige Geschichte zurückblickt. Die Zentralmacht war stets fern, was diese Außenseiterposition stärkte. Dazu lebten die Basken in einer rauen, lebensfeindlichen Region, sodass es nicht wundert, dass sie noch an Wald-, Wasser- und Berggeister glaubten, als sie längst zum Christentum übergetreten waren: Die Unmittelbarkeit der Natur und ihre zeitgenössisch nicht erklärbaren Seltsamkeiten ließen sich nur auf diese Weise begreifen.
Glauben und töten
In den 1990er Jahren setzte das baskische Duo J. L. Landa and J. Muñoz unter dem Titel „El ciclo de Irati“ einheimische Legenden als Comic um. Sie wählten als Kulisse die Zeit der fränkischen Feldzüge, die nicht nur politisch für enorme Veränderungen sorgte. In Spanien lebten die Mauren mit den Christen und sogar den Juden friedlich zusammen, solange letztere die muslimische Oberherrschaft anerkannten. Im 8. Jahrhundert kamen die Franken ins Land und zerstörten diese Ordnung, die sich bewährt hatte.
Dem stellen Landa & Muñoz sowie nun Alijo einen weiteren, ähnlich gelagerten Konflikt gegenüber: Religion ist überhaupt ein potenziell tödlicher Faktor. Was eigentlich dem Menschen Halt in einem Leben geben soll, das angeblich göttlich gesteuert wird und eine ‚Fortsetzung‘ nach dem Tod verspricht, wird durch seinen Alleingeltungsanspruch gefährlich. Toleranz ist dem mittelalterlichen Christentum sowohl fremd als auch verdächtig, denn sie leistet dem Teufel Vorschub; am besten tötet man vorsichtshalber alle, die als Häretiker verdächtig sind, und überlässt Gott die nachträgliche Sortierung.
So geraten Eneko und Irati zwischen Hammer und Amboss. Er ist ein durchaus glaubensstarker Christ, wird als solcher jedoch nicht einmal von den eigenen Untertanen akzeptiert, weil sein Vater sich verbotener Magie bediente. Dass der ältere Eneko sich für sein Volk opferte, ist dabei irrelevant. Irati trifft es noch härter: Sie ist nicht gänzlich Mensch, denn ihre Mutter war Mari. Vogelfüße verraten sie, weshalb Irati zusammen mit der alten Luxa, die den alten Glauben hochhält, im Wald und außerhalb der Gemeinschaft leben muss.
Es war einmal ...
Die Welt von Eneko und Irati ist eine Mischung aus historischer Realität und legendenhafter Überhöhung. Alijo führt beide Sphären zusammen und zeichnet eine buchstäblich magische, aber keineswegs zauberhafte Welt. Nicht grundlos wird „Irati“, der Film, als baskische Version des „Herr-der-Ringe“-Epos bezeichnet. Wie bei J. R. R. Tolkien ist die Legende von Eneko und Irati nicht nur ein spannendes Abenteuer, sondern eine Allegorie, die den oben beschriebenen Religionskonflikt thematisiert.
Ursprünglich gab es viele ‚Götter‘, die man als Emanationen nicht körperlicher Mächte betrachten muss, die über quasi magische Fähigkeiten verfügen. Mari herrscht über die Elemente, kann Feuer, Wasser, Sturm u. a. zerstörerische Kräfte heraufbeschwören und lenken. Eigentlich will sie nur das lebendige Zentrum ‚ihres‘ Waldes sein, dessen Pflanzen und Tiere einen Kollektivorganismus bilden. Wird in Maris Wald ein Baum gefällt, strömt rotes Blut aus dem Stumpf. Lässt man den Wald in Ruhe, bleibt Mari friedlich. Doch die Zahl der Menschen nimmt zu, und Holz ist ein wertvolles Handelsgut. Der Konflikt ist vorgezeichnet.
Zudem schwindet Maris Macht. ‚Götter‘ können sich nur halten, wenn an sie geglaubt wird. Der Christengott hat dafür gesorgt, dass die Konkurrenz nach und nach ausgeschaltet wird. Als die gierigen Menschen nun bis ins Herz ihres Reiches vordringen, kann Mari ihnen zwar trotzen, verliert dabei jedoch die letzte Kraft. Eine Episode wird auf diese Weise zum Markstein: Im Ebro-Tal manifestiert sich eine Ur-Macht zum letzten Mal.
Wie man ein Epos mit Kleingeld dreht
4,2 Mio. Euro konnte Alijo für seinen Film einsetzen; nie war ein baskisches Filmprojekt kostspieliger. Angesichts des radiusweiten Rades, das Alijo zu drehen gedachte, war diese Summe ein Witz; dies vor allem, wenn man weiß, wie viel Geld die erwähnte „Herr-der-Ringe“-Trilogie verschlang. Nichtsdestotrotz kann „Irati“ in diesem Umfeld mithalten. Noch immer lassen sich auch mit schmalem Budget Welten glaubhaft erschaffen, wenn menschliche Einfallskraft finanzielle Klippen nicht nur umschifft, sondern aus der Not eine Tugend macht.
Auch Peter Jackson hat trotz fett gespickter Börse die Landschaft seiner Heimat Neuseeland als natürliche Kulissen eingesetzt. Diese Welten sind real und müssen nicht digital geschaffen werden, was man ihnen auch heutzutage ansieht. Alijo suchte und fand im Baskenland ähnlich eindrucksvolle Orte und Plätze. Die Aufnahmen in Maris magischem Wald entstanden im Baskenland sowie im ehemaligen nordspanischen Königreich Navarra. Dort gibt es sogar einen Irati-Wald, ein seit Jahrhunderten kaum berührter Landstrich. Kameras liefen außerdem in der grandiosen Tropfsteinhöhle von Arrikrutz in der baskischen Provinz Gipuzkoa.
Für Enekos Burg stand das Castillo de Loarre im nordspanischen Aragonien Pate. Es entstand zwar erst im frühen 11. Jahrhundert, gilt aber als Paradebeispiel für eine mittelalterliche, trutzige, auf einem Bergsporn hockende Burg, was fähige Kulissenbauer für den „Irati“-Film nutzten. Sie wurden vom Kameramann Gorka Gómez und seinem Team unterstützt, die ihren Arbeitsinstrumenten erstaunliche Bilder entlockten und den Eindruck einer versunkenen und verwunschenen Vergangenheit vervollständigten. In diesem Zusammenhang darf auf keinen Fall die stimmungsstarke Musik des Duos Aránzazu Calleja und Maite Arroitajauregi unerwähnt bleiben, die unsere Ohren ebenso betören wie Gómez unsere Augen.
Götter und Monster
„Irati“ ist auch eine Liebesgeschichte, die Paul Urkijo Alijo unter Einsatz bewährter Klischees bzw. Formeln, aber ohne Stereotypen erzählt; eine bemerkenswerte Leistung, an der nicht nur Hollywood faktisch jedes Mal scheitert. Die Liebe von Eneko und Irati ist eingebettet in eine Handlung, die weit darüber hinausgeht, aber stets mit dem Plot verbunden bleibt. Dass dies so reibungslos und schwulstfrei funktioniert, liegt auch an den fähigen Schauspielern. Während Edurne Azkarate jederzeit als Irati präsent ist, muss Eneko Sagardoy hinter seinem gewaltigen Bart dagegen ankämpfen, wie ein Bruder von Oliver Reed oder gar Joe Black zu wirken. Er siegt und stellt das notwendige Gegengewicht zur Irati-Figur glaubhaft dar.
Itziar Ituño ist auch in ihren Szenen ohne Einsatz von Spezialeffekten eine überzeugende Mari. Allerdings gewinnt sie an Präsenz, wenn Alijo seine eigenen Zauberer aktiv werden lässt. „Irati“ wartet mit Kostümen und vor allem mit Tricks einer Qualitätsstufe auf, die man in einem so kostengünstig entstandenen Film nicht erwartet. Hilfreich war auch hier eine gute Vorplanung: Die Effekte dienen der Story, statt sie zu ersetzen. Gedreht wurde, was erforderlich war. Die blockbustertypische optische Vergewaltigung entfällt. Diesbezüglich stimmen Kritik und Publikum in ihrem positiven Urteil überein wie sonst selten.
Natürlich ist nicht alles gelungen. Maris riesenschlangenähnlicher Gatte kann seine digitale Herkunft nicht verleugnen. Auch manche Feuerwolke lässt eher kalt, und die Zahl der Statisten war sichtlich beschränkt. Dies wird mit Szenen wettgemacht, die jenes kindliche Staunen provozieren, das im Publikum die Frage nach dem „Wie-hat-man-das-gemacht?“ verstummen lässt. Maris „Kinder“ - ein menschenfressender Zyklop oder aus Tropfsteinen geformte Gestalten - sind ebenso bemerkenswert wie die von ihr heraufbeschworenen Unwetter; kein Wunder, dass die Effekte im Rahmen des Filmfestivals von Sitges 2022 ausgezeichnet wurden. So bilden Inhalt und Form eine Einheit, die den von Alijo Sogeffekt ausübt.
Fazit
Realhistorie und Legende gehen eine bemerkenswerte Symbiose ein, obwohl die erzählte Geschichte nicht unbedingt originell ist. Wieder einmal wird deutlich, dass die Präsentation ein Erlebnis ausmacht - ein Prädikat, das dieser Film ohne Plump-Sentimentalität und Effekt-Overkill verdient.
Wertung: 8
Bilder: © Splendid Film
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