Goodnight Mommy
Film-Kritik von Marcel Scharrenbroich
Nicht die Mama!!!
Mit offenen Augen schlafen
You are my sunshines, my only sunshines…“ Das Lied, das die Mutter (Naomi Watts) ihren Söhnen jeden Abend vor dem Einschlafen vorgesungen hat. Eine Erinnerung an glückliche Zeiten, als die Familie noch eine Familie war. Diese Zeiten sind vorbei. Als der mittlerweile von der Familie getrennt lebende Vater (Peter Hermann) die beiden Zwillinge Elias (Cameron Crovetti) und Lukas (Nicholas Crovetti) wieder zum ländlichen Haus nahe des Waldes fährt, liefert sich den Jungen ein besorgniserregender Anblick. Ihre Mutter hatte während ihrer Abwesenheit einen chirurgischen Eingriff, der sie zwingt, eine Gesichtsmaske zu tragen. Ehemals auf den roten Teppichen und im Blitzlichtgewitter zuhause, war unzufrieden mit ihrem Äußeren, suchte Veränderung für einen Neuanfang. Neu ist auch das Verhalten, das die Mutter ihren Söhnen gegenüber an den Tag legt. Plötzlich herrschen im Haus strenge Regeln: kein Rennen im Haus, sich leise verhalten, keine Besuche von Freunden, geschlossene Vorhänge, um das empfindliche Gesicht vor Sonnenlicht zu schützen… und vor allem striktes Zutrittsverbot zum Schlafzimmer der Mutter. Die Scheune ist ebenfalls tabu. Da gibt es keine Diskussion.
Elias und Lukas bemerken zunehmend Veränderungen. Die Mutter verhält sich distanziert. Abgesehen von den neuen, ungewöhnlichen Regeln weigert sie sich plötzlich, ihnen das Schlaflied vorzusingen. Ein eigentlich etabliertes Ritual. Haben sich ihre Gefühle gegenüber ihren Kindern verändert? Als Elias sich neugierig in die Scheune schleicht, findet er einen Fleck, der wie Blut aussieht. Das unerlaubte Eindringen bleibt nicht lange verborgen und die Mutter reagiert aufbrausend und wird handgreiflich. Zunehmend plagen den Jungen Albträume, während seine Mutter fast schon bedrohlich durch Haus schreitet und drakonische Strafen verhängt. Ihr Gesicht stets bandagiert, beobachtet sie die Jungen auch nachts, als diese vermeintlich schlafen. Ihnen kommt der schreckliche Verdacht, dass die unberechenbare Frau unter der Maske nicht die Person ist, die sie vorzugeben scheint. Elias und Lukas wagen sich in die Höhle der Löwin, um mehr über die Identität der Frau herauszufinden, die sie womöglich zu Unrecht Mommy nennen…
Hollywoods Remake-Wahn
Wem der Plot vertraut vorkommt, hat wahrscheinlich den österreichischen Film „Ich seh, ich seh“ geschaut. „Goodnight Mommy“ ist nämlich nichts anderes als das Remake des Streifens, der bereits 2014 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig seine Premiere feierte. Das Werk von Veronika Franz und Severin Fiala wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und sogar als Beitrag zum Fremdsprachen-Oscar eingereicht. Leider ohne Erfolg… und dazu noch unverdient, denn „Ich seh, ich seh“ ist einer der interessantesten Genre-Beiträge der vergangenen Jahre.
Da die Sehgewohnheiten des amerikanischen Publikums nicht gerade durch Flexibilität bestechen, werden selbst für den US-Markt synchronisierte Filme häufig nur am Rande wahrgenommen. Glückliche Ausnahmen sind da Werke wie „Sophie Scholl - Die letzten Tage“, „Werk ohne Autor“, „Lola rennt“, „Der Untergang“, „Das Leben der Anderen“ oder natürlich Wolfgang Petersens Meisterwerk „Das Boot“. Filmaffine Zuschauerinnen und Zuschauer lassen sich dann selbst von Untertiteln nicht abhalten oder schauen synchronisierte Filme wegen der Intensität gleich im Originalton, wie es beispielsweise die unfassbar gute NETFLIX-Serie „Dark“ gezeigt hat, mit der man weltweit Eindruck schinden konnte. Die große Masse erreicht man damit leider nicht, weshalb in der Traumfabrik immer wieder auf dem Publikum bestens bekannte Gesichter zurückgegriffen wird. Was mit dem von Friedrich Dürrenmatt geschriebenen Krimi-Klassiker „Es geschah am hellichten Tag“ - aus dem 2001 „Das Versprechen“ mit Jack Nicholson wurde - noch sehr gut und mit Michael Hanekes „Funny Games“ immerhin einigermaßen funktionierte, blieb so manchem „Experiment“ verwehrt. So ging Til Schweigers national mega-erfolgreiches Drama „Honig im Kopf“ als US-Version mit Nick Nolte gnadenlos baden. Dennoch versucht man es immer wieder, indem man herausstechende Stoffe mit Hollywoods A-Riege besetzt und mit fürs Publikum erwartbaren Zutaten anreichert, um den möglichst breiten Massengeschmack zu treffen. Im Fall von „Goodnight Mommy“, unter welchem Titel das österreichische Original sogar in den amerikanischen Kinos gezeigt wurde, ist das erstaunlicherweise sogar geglückt.
Das ist vor allem der klaustrophobischen Atmosphäre zu verdanken, die auch im Original schon fantastisch präsent war. Kameramann Alexander Dynan („First Reformed“, „The Card Counter“ und aktuell „Master Gardener“) hat ebenso bedrohliche wie düstere Bilder eingefangen, welche durch den dezenten Einsatz unheilschwangerer Musik noch an Intensität gewinnen. Die Zwillinge Nicholas („Big Little Lies“) und Cameron Crovetti („The Boys“, „The Gray Man“) stehen ihren österreichischen Vorbildern Lukas und Elis Schwarz in Nichts nach, doch der Hauptgrund, warum „Goodnight Mommy“ als Remake so gut funktioniert, ist Naomi Watts.
Die englische Schauspielerin, deren Karriere bereits Mitte der 80er mit kleineren Film- und TV-Rollen startete, blieb der große Sprung nach Filmen wie der Comic-Verfilmung „Tank Girl“ und der Horror-Fließbandware „Kinder des Zorns IV: Mörderischer Kult“ lange verwehrt. Das änderte sich 2001, als Watts durch David Lynchs albtraumhaften Mystery-Thriller „Mulholland Drive - Straße der Finsternis“ (passend zu ihrer dortigen Rolle) über Nacht zum Star wurde. Es folgten Hauptrollen im US-Remake von „The Ring“, Peter Jacksons „King Kong“-Neuverfilmung, dem bereits angesprochenen „Funny Games“ oder dem Oscar-prämierten „Birdman“. Für ihre Rollen in „21 Gramm“ und „The Impossible“ wurde sie jeweils für einen Academy Award nominiert. Auf dem kleinen Bildschirm sah man Naomi Watts zuletzt in „Gypsy“, „The Loudest Voice“ und David Lynchs „Twin Peaks“-Revival. Ab dem 13. Oktober ist sie in der Thriller-Mini-Serie „The Watcher“ an der Seite von Bobby Cannavale auf NETFLIX zu sehen. Als namenlose Mutter liefert sie in „Goodnight Mommy“ eine beängstigende Vorstellung ab. Da ihre Mimik meist hinter den Bandagen verborgen bleibt, kommen die plötzlichen Gefühlsausbrüche oft aus dem Nichts. Das zeigt Wirkung und wird durch die Reaktionen ihrer jungen Co-Stars noch spürbarer. Ihre Bewegungen sind sowohl anmutig als auch bedrohlich, ihr Blick stechend. Im Original spielte die österreichische Theater-, Film- und TV-Schauspielerin Susanne Wuest die Rolle der unberechenbaren Mutter schon sehr überzeugend. Beide Filme warten zudem mit verstörenden Sequenzen auf, was den Spagat zwischen Mystery, Thriller und Drama noch um eine grafische Horror-Ebene erweitert.
Bleibt nur die Frage, welche Fassung nun die bessere ist. Das lässt sich gar nicht so leicht beantworten, denn es spielt schon eine Rolle, ob man mit „Ich seh, ich seh“ bereits vertraut ist. Da der Plot weitestgehend identisch ist, ist der Überraschungseffekt in der US-Version für Kenner natürlich nicht mehr gegeben. In Matt Sobels Remake - basierend auf einem Drehbuch von Kyle Warren - gibt es zwar ein paar dramaturgische Änderungen, die allerdings nicht so weitreichend sind, dass man mit „Goodnight Mommy“ ein gänzlich neues Filmerlebnis geboten bekommen würde. Da die Macher des Originals, Veronika Franz und Severin Fiala, im Remake auch auf der Produzenten-Seite involviert waren, kann man davon ausgehen, dass sie der Neuverfilmung für AMAZON PRIME positiv gegenüberstehen. So geht es mir auch… und so ist es letztendlich eine Frage des persönlichen Geschmacks, ob man dem europäischen Kino generell etwas abgewinnen kann, oder lieber auf die sichere Hollywood-Bank setzt. Sehenswert sind beide Fassungen, obwohl ich „Ich seh, ich seh“ als drastischer empfunden habe und es bei „Goodnight Mommy“ EIN dickes Manko gibt…
O-Ton oder nicht?
Angesprochene Problematik liegt nicht etwa in der filmischen Umsetzung, sondern in der deutschen Synchronisation. Wie es 2014 in „Ich seh, ich seh“ gehandhabt wurde, kann ich nach der längeren Zeit der Sichtung nicht mehr mit Sicherheit sagen, aber in „Goodnight Mommy“ wird durch die Synchro ein großer Plot-Twist bereits vorweggenommen, was aufmerksamen Zuschauern gleich auffallen wird. Aus Spoiler-Gründen werde ich darauf selbstverständlich nicht näher eingehen, aber gänzlich neu war die Idee der Auflösung schon vor acht Jahren nicht. Speziell im US-Remake hätte man vielleicht noch etwas cleverer/subtiler vorgehen und dem Publikum mehr Vertrauen schenken können. Man muss nicht gleich mit dem ganzen Zaun winken, bis bei uns der Groschen fällt. Das sind aber nur Randnotizen, die dem Sehvergnügen keinen eklatanten Abbruch tun. Wer eh schon O-Ton-Purist ist, sollte „Goodnight Mommy“ nicht zur ersten Ausnahme machen und bei der englischen Sprachfassung bleiben. Ich selbst zähle mich nicht zwingend dazu, da deutsche Synchronisationen in meinen Augen (zumindest bei hochwertigeren Filmen) über jeden Zweifel erhaben sind. Früh geprägt durch die unvergleichlichen Rainer-Brand-Synchros der Spencer/Hill-Filme, wird man dies vielleicht nachempfinden können. Und Charakterdarsteller wie Robert De Niro, Michael Caine, Robert Redford oder Jack Nicholson kann und möchte ich mir anders als mit ihren markanten deutschen Stimmen nicht mehr vorstellen. Just my two cents (dt. synchronisiert: Ach guck, Kleingeld!)
Fazit
Radikalisierung im eigenen Haus: „Goodnight Mommy“ zeigt auf beklemmende Weise, wie sich die familiäre Gefühlsspirale zwischen Liebe, Angst und Hass dreht. Dank einer grandiosen Naomi Watts ein gelungenes Remake, das vielleicht dazu animiert, sich nachträglich auch mal dem Original aus Österreich zu widmen.
Wertung: 8
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