Formicula

Film-Besprechung von Michael Drewniok

Kinder des Atoms mit beinharten Zangenkiefern

Die State Troopers Ben Peterson und Ed Blackburn retten ein kleines Mädchen, das orientierungslos und stumm durch die Wüste von New Mexico irrt. Der Wohnwagen der Familie wird entdeckt; er ist zerstört, alle Insassen sind verschwunden. Schwer beschädigt finden Peterson und Blackburn auch den Laden von Großvater Johnson vor. Die entstellte Leiche des Inhabers liegt im Keller; sie ist mit Ameisensäure vollgepumpt. Während Blackburn auf die Spurensicherung wartet, lockt ihn ein schwirrendes Geräusch ins Freie, wo er gepackt und verschleppt wird.

Da die Polizei ratlos bleibt, ruft sie das FBI zur Hilfe, aber auch Agent Robert Graham kann das Rätsel nicht lösen. Der Durchbruch gelingt, als sich die Doktoren Harold und Patricia Medford vom Landwirtschaftsministerium einschalten. Harold, der Vater, ein berühmter Entomologe, konnte gesicherte Spuren als Fährte einer gigantischen Ameise identifizieren. Radioaktive Strahlung ließ die Insekten mutieren, denn man befindet sich unweit der „White Sands Proving Grounds“, wo 1945 die ersten Atombombentests stattfanden.

Die Medfords vermuten irgendwo in der Wüste ein Nest der gewaltigen Insekten. Es wird gefunden und ausgeräuchert, doch zwei Ameisenköniginnen sind bereits ausgeflogen. Sie werden sich irgendwo einnisten und neue Monster-Ameisen ausbrüten. Im Wettlauf mit der Zeit versuchen US-Regierung, Militär, FBI und die Medfords als Vertreter der Wissenschaft, die Nester zu finden, bevor ein Millionenheer gefräßiger Riesenameisen über die Menschheit herfällt und das Ende der Zivilisation einläutet …

Die seltene Kunst zeitloser Unterhaltung

Viele Jahrzehnte ist dieser Film alt. Alle modernen und vor allem den jüngeren Zuschauern bekannten Qualitäten gehen ihm ab. Die Spezialeffekte sorgen nicht mehr für Grusel, sondern für Grinsen, die Bilder sind schwarzweiß, und die Akustik dokumentiert eine Ära, als Ohren offenbar aus Holz bestanden. Die Darsteller sind längst tot, ihre Rollen spiegeln überkommene politische und kulturelle Klischees wider.

Trotzdem ist „Formicula“ ein großartiger Film. Er schlägt, da spannend, schnell und unterhaltsam, das Publikum bis heute in seinen Bann. Dies ist nicht primär dem sonst gern beschworenen Faktor Nostalgie zu verdanken, sondern der Handwerks- und Darstellungskunst von Männern und Frauen, die vor und hinter der Kamera genau wussten, was sie taten.

„Formicula“ ist Kino der B-Kategorie in Reinkultur: die nie kunstvolle, sondern auf den Effekt und das Wesentliche getrimmte Reduktion von Handlung und Bild. „B-Movies“ sollen ‚nur‘ unterhalten. Die Abwesenheit eines Subtextes, der sich im Hollywood-Kino meist auf gut gemeinte, aber allzu plakativ umgesetzte Anliegen richtet, ermöglicht einen inhaltlich wie formal altmodischen Films, der seinen Unterhaltungswert bewahren konnte, weil er nicht nur die zeitlosen Regeln gelungenen Kinos berücksichtigt, sondern dabei auch alles richtig macht.

Warnung ohne erhobenen Zeigefinger

Die 1950er Jahre standen im Zeichen eines kalten Kriegs zwischen den Supermächten USA und UdSSR. Jederzeit konnte er ‚heiß‘ werden, denn beide Seiten verfügten über die Atom- und später die Wasserstoffbombe. Die nukleare Weltuntergangs-Maschinerie wurde ständig verfeinert und perfektioniert. Nicht zu leugnende, sehr unangenehme Begleiterscheinungen galten als Kollateralschäden im Dienst der guten Sache: Jede Atombomben-Explosion erzeugt radioaktiv strahlenden Fallout. Schon in den 1950er Jahren ahnten Militär und Wissenschaft, dass die Atompilze in den scheinbar öden und verlassenen Wüsten von New Mexico keineswegs folgenlos verpufften. „Formicula“ griff daraus resultierende Sorgen und Ängste auf und verlieh ihnen eine publikumswirksame Gestalt.

Heute nehmen wir solche Warnungen ernster, als sie ursprünglich gemeint waren. „Formicula“ ist ein Film, der möglichst hohe Einnahmen erzielen sollte. Faktisch äußert „Formicula“ zwar Bedenken, ohne das System jemals in Frage zu stellen: Blitzschnell ruft die Regierung den Notstand aus, überlässt dem Militär (bzw. der Nationalgarde) das Feld, hüllt sich gegenüber den Medien in Schweigen und tritt auch sonst diverse Bürgerrechte mit Füßen, um die vorausgesetzte Panik der Bevölkerung zu vermeiden.  Auch wird nie dazu aufgerufen, Atombombentests zukünftig zu unterlassen.

Dennoch gehört „Formicula“ nicht zum Kanon jener Filme, die in den 1950er Jahren die befürchtete Invasion durch die todfeindlichen Sowjets verfremdet durchspielten, obwohl sich die Allegorie Ameisen = perfekt organisierte, kollektiv ent-individualisierte, unerbittliche, sich selbst reproduzierende Mordmaschinen = kommunistische Erbfeinde der westlichen/US-amerikanischen Demokratie - anbot. Gewarnt wird stattdessen wie in den „Frankenstein“-Filmen vor einer Neugier, die unerwartete und böse Folgen haben kann.

Wie man 90 Minuten wie im Fluge vergehen lässt

 „Formicula“ beginnt als Thriller mit Mystery-Elementen. Zwei Polizisten, bodenständige und sympathische Charaktere, führen in das Geschehen ein. Nach einer halben Stunde ‚springt‘ die Geschichte in ein neues Genre und wird zur Science-Fiction-Story mit Horror-Touch. Dieser Wechsel erfolgt dynamisch und hinterlässt keine Irritationen. Gordon Douglas (1907-1993) gehörte nie zur ersten Garnitur der von der Filmkritik hofierten Hollywood-Regisseure. Er war kein Autorenfilmer, sondern drehte in mehr als vier Jahrzehnten knapp 100 B-Movies. In seinem Job meisterte Douglas jedes Genre und wusste, wie man einen Film zügig, kostengünstig und spannend inszenierte. Für „Formicula“ stand ihm kein üppiges Budget zur Verfügung. Immerhin gab das Studio Warner Brothers genug Geld aus, um Douglas nicht in enge Studiokulissen zu zwingen. Auf die im SF-Kino dieser Ära gern genutzte Methode, kostspielige Armee-Aufmärsche oder Raketen-Starts durch (stets als solche erkennbare) Archivaufnahmen zu ersetzen, konnte Douglas verzichten. Sogar erschreckende wirkende Riesenameisen gab die Kasse her.

Überdies erweist sich Douglas als Meister der atmosphärischen Untertöne. Ursprünglich sollte „Formicula“ in Farbe gedreht werden, was man sich gar nicht vorstellen kann oder möchte. Viele Aufnahmen entstanden im gleißenden Licht der Wüste, die Douglas und sein fabelhafter Kameramann Sidney Hickox (1895-1982) - ein Veteran, der seit 1916 ‚im Dienst‘ war - als unheimlichen, lebensfeindlichen Ort in Szene setzen. (Entstanden ist „Formicula“ übrigens auf dem Gelände der Blaney Ranch nahe Palmdale im US-Staat Kalifornien, einer von Hollywood gern und oft wegen seiner pittoresken Felsen genutzten Kulisse. Kurioserweise wachsen die Josuabäume, die stark zum bizarren Eindruck der Landschaft beitragen, nicht in New Mexiko.) Das große Finale entstand im betonierten Bett des Los Angeles River und in den Röhren des städtischen Abwassersystems. Hickox bewies hier, dass er auch mit Licht und Schatten bemerkenswerte Effekte erzielen konnte.

Komplettiert wird die handwerkliche Brillanz durch einen ausgefeilten Soundtrack. Bronislau Kaper (1902-1983) schuf einen Score, der dramatisch untermalt, ohne sich aufdringlich in den Vordergrund zu drängen. Gern setzt Douglas darüber hinaus das Element der Stille ein: die Wüste, das Innere des Ameisenbaus, die Abwassertunnel von Los Angeles - immer wieder horchen die Darsteller, und die Zuschauer horchen unwillkürlich mit. Sie werden belohnt und erschrecken, wenn jenes fiese Schrillen ertönt, das die Nähe hungriger Riesenameisen signalisiert.

Männer - und eine Frau - der Tat

Wer kennt (und hasst) sie nicht - die eindimensionalen ‚Macher‘ des Hollywood-Films, die mit der Waffe in der Rechten den Strolch/das Monster/den Kommunisten der Woche in Schach und mit der Linken die hilflose Hauptdarstellerin halten. „Formicula“ vermeidet die schlimmsten Klischees. Höchstens James Arness als FBI-Agent Graham versucht sich als selbst ernannter Beschützer, als er Pat Medford verbieten will, mit in das Ameisennest zu steigen. Sie belehrt ihn kurz und knapp eines Besseren, und Graham hat seine Lektion gelernt: Als es im Finale in die Abwasserkanäle geht, ist Pat selbstverständlich mit dabei. Sie ist keinesfalls die Kofferträgerin ihres hinfälligen Vaters, sondern seine gleichberechtigte Assistentin.

„Formicula“ ist ein Film ohne die angeblich obligatorische Liebesgeschichte. Graham und Pat kommen sich näher, aber dies geschieht ganz nebenbei und tangiert die eigentliche Handlung nicht. Ohnehin ist „Formicula“ ein Ensemble-Film ohne wirkliche Hauptrollen. Starke Charakterschauspieler sorgen für sympathische, nie stromlinienförmige Figuren. Vor allem der knorrige James Whitmore (1921-2009) als Trooper Ben Peterson ist alles andere als ein strahlender Held. Niemand würde ihn auf die 32 Jahre schätzen, die er zum Zeitpunkt der Dreharbeiten (1953) erst alt war.

So etwas wie eine Heldenrolle übernimmt tatkräftig, aber unaufdringlich James Arness (1923-2011). Mit seiner Körpergröße von 2,01 m füllt er die Leinwand bereits optisch aus. (Eine eigene Anmerkung wert ist der Anblick in Uniform: Auf dem riesigen Arness-Schädel sitzt der Stahlhelm eng wie eine Badekappe.) „Formicula“ wurde sein Sprungbrett in eine echte Karriere: Er fiel seinem Kollegen John Wayne auf, der ihn als Darsteller für eine gerade in Produktion gehende TV-Western-Serie empfahl: „Gunsmoke“ (dt. „Rauchende Colts“). Der Rest ist Geschichte - eine Geschichte, die zwanzig Fernseh-Jahre (1955-1975) und 635 Episoden plus fünf TV-Spielfilme (1987-1994) dauerte, in denen Arness den Marshall Matt Dillon verkörperte.

Ein den jungen Kollegen ebenbürtiger Hauptdarsteller ist Edmund Gwenn (1877-1959), der während des Drehs bereits 76 Jahre alt war und sowohl schwer an Arthritis als auch an der Wüstenhitze litt. Als Dr. Harold Medford erfüllt er einerseits die Hollywood-Klischees des verschrobenen, weltfremden, zerstreuten Gelehrten, ohne dabei andererseits lächerlich oder inkompetent zu wirken: Wenn Medford das Ende der Welt beim Versagen im Kampf gegen die Ameisen beschreibt, glaubt man ihm sofort.

„Im Ameishaufen wimmelt es …“

… zitiert Dr. Medford - zweifellos nur in der deutschen Fassung - Wilhelm Busch und dessen „Naturgeschichtliches Alphabet“ (1860). Gewimmel ist in „Formicula“ jedoch nicht zu sehen. Spezialeffekte sind teuer, und hier entschied man sich, keine echten Ameisen zu filmen, um die Aufnahmen dann so in den Film zu montieren, als ob riesige Insekten winzigen Menschen gegenüberstünden - ein weiser Beschluss, da solche Tricks in der Regel eher schlecht („The Deadly Mantis“, 1957) als recht („Tarantula“, 1955) funktionieren.

Die Ameisen wurden deshalb in Lebensgröße gebaut. Wenn die Darsteller mit ihnen interagieren, sind sie gleichzeitig im Bild. Dass die Groß-Modelle aus heutiger Sicht eher putzig als erschreckend wirken und auch ziemlich unbeweglich sind, ändert nichts an der Dynamik dieser Szenen, zumal Drehbuch und Regie den ersten Ameisen-Auftritt so eindrucksvoll gestalten, dass der Zuschauer das Wissen, hydraulisch angetriebene Kunst-Monster zu sehen, ebenso bereitwillig und erfolgreich ausblendet wie die Tatsache, dass budgetschonend nie mehr als drei Ameisen gleichzeitig gezeigt werden. Die altbackenen Spezialeffekte ändern jedenfalls nichts an der guten Story, der straffen Regie, der geschickt geschürten Grusel- Stimmung oder den akkurat besetzten Darstellern: „Formicula“ ist kein von der Werbung herbeigelogener, sondern ein echter, zeitloser Kino-Klassiker.

Eine deutschsprachige DVD-Ausgabe von „Formicula“ ist 2003 erschienen (und wurde 2012 neu aufgelegt). Optisch irritiert das knallbunte Cover, auf dem zwei Riesenameisen durch geschlitzte Katzenpupillen böse auf den Betrachter starren. (Im Film sitzen dort ordnungsgemäß Facettenaugen.) Die Features beschränken sich auf den (gewohnt reißerischen) Trailer, einen dreiminütigen Blick hinter die Kulissen und eine Fotogalerie (25 Bilder).

Der Film selbst erfreut durch ein klares und störungsarmes Schwarzweiß-Bild. Nur manchmal zeigen sich kleine Sprünge. Leider konserviert die DVD das Bildformat 4:3, in dem der Film seit 1974 vom deutschen Fernsehen ausgestrahlt wird. Erfreulich ist die Übernahme der alten Synchronfassung von 1960, die sehr gut geriet und mit ihren zum Teil aus dem Alltagswortschatz gerutschten Ausdrücken („Süßschnabel“) und kuriosen Eindeutschungen („Macht mich zum Spieß von der Sauf-Kompanie!“) den nostalgischen Charakter des Films unterstreicht. (Selbst die ‚Übersetzung‘ des Titels zeugt von gelungener Ironie: Das lateinische „formicula“ bedeutet „kleine Ameise“.) Nur der Dolby-Digital-1.0-Mono-Ton ist denn doch zu viel der Nostalgie!

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