Brooklyn 1945
Film-Besprechung von Michael Drewniok
Im Dezember des Jahres 1945 liegt der Zweite Weltkrieg erst wenige Monate zurück. Die von den Fronten zurückgekehrten Männer und Frauen haben längst noch nicht ins Zivilleben zurückgefunden; zu schrecklich war, was sie in Übersee gesehen oder getan haben: Der Krieg hat sie gezeichnet, nur vorgeblich sind sie daheim angekommen.
Vor allem für Colonel Clive Hockstatter blieb die Hoffnung auf ein ‚normales‘ Weiterleben eine Illusion. Gattin Susan, die der Krieg psychisch buchstäblich heimgesucht hatte, trieb der Wahnsinn in den Selbstmord. Kurz vor der Jahreswende hat Hockstetter seine besten Freunde in sein Haus im New Yorker Stadtteil Brooklyn eingeladen. Sie kommen, denn sie wollen ihn trösten.
Dabei sind sie selbst Versehrte. Marla Sheridan hat manchmal nur vorgebliche Nazi-Spione brutal gefoltert, damit diese ihr Wissen preisgaben. Major Stanton wird ein in Berlin begangenes Kriegsverbrechen vorgeworfen, das er auf Befehl von Hockstatter beging, der ihn dafür vor Gericht decken will. Für Major DiFranco, der ebenfalls in die Tragödie verwickelt ist, tobt der Krieg weiter; überall sieht er Nazis und Spione. Marlas Ehemann Bob war nie an der Front. Fassungslos muss er erleben, wie in den folgenden Stunden die Masken fallen und verdrängte Schuld die Runde überrollt.
Hockstatter zwingt seine Freunde zur Teilnahme an einer Seánce. Der Kontakt mit dem Geisterreich gelingt: Die verstorbene Susan ist keineswegs ‚erlöst‘, sondern ebenso irrsinnig wie vor ihrem Tod. Weiterhin hält sie die Nachbarn für deutsche Spione und fordert deren Eliminierung. Dass Clive ihren Wahnsinn teilt, wird den entsetzten Freunden klar, als er sich eine Kugel in den Kopf schießt.
Das Tor zur anderen Welt steht noch offen. Clive wird ebenfalls zum Geist. Er fordert in Susans Namen Rache und den Tod der Nachbarin Hildegard Baumann, die er am Vortag entführt und in einen Schrank eingesperrt hat, aus dem man sie nun befreit. Unsichtbare Kräfte verhindern ein Verlassen des Raumes. Die Tür werde sich erst öffnen, wenn eine der anwesenden Personen Hildegard erschossen hat, verkündet der Geist. Soll man „die Kraut“ tatsächlich umbringen? Es entspinnt sich eine lebhafte, sogar handfeste Diskussion, in die sich Hildegard voller Angst um ihr Leben einschaltet ...
Eingesperrt mit seinem Gewissen
„Brooklyn 1945“ dürfte seine Zuschauer zwiespältig zurücklassen. Hier wird ein sehr diesseitiges Drama mit den Mitteln der Geistergeschichte erzählt bzw. verwoben. Darüber hinaus ist „Brooklyn 1945“ ein historisches Zeitstück. Nicht nur die Story, sondern auch die Ausstattung und die filmische Umsetzung knüpfen an das zeitgenössische Kino an. Die ersten Minuten zeigen zu entsprechender Musik das Hockstatter-Haus von außen im „klassischen“ Format 4 : 3 und in Schwarzweiß, bis sich links und rechts die Ränder weiten und das Bild farbig wird.
Dass die Vergangenheit plastisch werden kann, obwohl das Geschehen fast ausschließlich in nur einem Raum spielt, ermöglicht die unglaublich liebevolle Detailfreude, mit der die unmittelbare Nachkriegsära in und zwischen diesen vier Wänden auflebt. Die zahlreichen Fotos sind echt; Regisseur Geoghegan hatte aufgerufen, ihm für die Ausstattung historische Fotos zur Verfügung zu stellen. Auch sonst spiegelt jedes Möbel- und Einrichtungsstück den Geist der Zeit wider.
Als Zuschauer fühlt man sich einerseits eingesperrt in diesem Raum. So will es Regisseur und Drehbuchautor Ted Geoghegan, denn wir sollen uns so unbehaglich fühlen wie jene, die hier eingesperrt und dem Übernatürlichen ausgeliefert sind. Andererseits fordert Kameramann Robert Patrick Stern seinem Arbeitsgerät alles ab, nutzt jeden Quadratzentimeter, um Bewegung in das nie statisch werdende Kammerspiel zu bringen. Die Kamera fliegt, springt, gleitet an den Wänden entlang und enthüllt immer wieder Details, die das Geschehen unterstreichen. Das geschickte Spiel mit Licht und Farbe trägt seinen Teil dazu bei, den Raum entweder (trügerisch) behaglich oder unheimlich wirken zu lassen.
Einst wird Jetzt: Probleme sind zeitlos
Geoghegan entwickelte die Story gemeinsam mit seinem 2019 verstorbenen Vater, der als Invalide aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt war. So stellte er sicher, dass die zeitgenössische Atmosphäre stilisiert auf den Punkt gebracht ist, aber gleichzeitig - s. o. - authentisch wirkt.
Der Dialog ist förmlich getränkt in einer Schwere, die mit der Story einhergeht. Es kommt zur Sprache, dass niemand, der nicht in einem Krieg kämpfen musste, wirklich versteht, welche Konsequenzen dies nach sich zieht. Bob Sheridan, der den Krieg in einem Büro in Washington verbracht hat, vertritt diese Ahnungslosen, die zudem lieber gar nicht wissen wollen, was für den Sieg über das Böse an den Fronten geschehen ist.
Marla, Jeremy, Clive und Paul: Sie haben Schuld auf sich geladen. Paradoxerweise geht es Hockstatter, der seine Freunde ‚einlädt‘ und in seiner Wohnung einsperrt, gar nicht darum. Er hat über seine Trauer den Verstand verloren und projiziert seine Hilflosigkeit in den Hass auf jene Baumann-„Krauts“, die in der Nachbarschaft leben. Was seine Freunde im Krieg durchgemacht und angerichtet haben, interessiert ihn nicht. Stattdessen instrumentalisiert er sie als Mittel zum Zweck.
Wer sagt, dass der Krieg vorüber ist?
Dass Clive sich als Geist lange gar nicht meldet, liegt auch daran, dass die Anwesenden vollauf mit sich beschäftigt sind. Unter dem Druck fallen die Masken. Hinter den Rücksichten, die man bisher nahm, kommen hässliche Wahrheiten zum Vorschein. Nicht die Tatsache, mit einem wütenden Geist eingesperrt zu sein, bestimmt die Handlung, sondern eine wüste, ausufernde Diskussion über Recht und Unrecht, deren Ausgang über das Leben von Hildegard entscheidet. Vor allem DiFranco will und könnte sie erschießen, um den letzten Willen seines Freundes Clive zu erfüllen. Die Argumente für und gegen eine solche Tat reißen weitere Hemmschwellen nieder, sodass zum Vorschein kommt, was beispielsweise Marla bisher vor dem verstörten Bob verborgen hat.
In diesem Kammerspiel gibt es keine ‚Kampfpausen‘. Sämtliche Schauspieler sind stets im Bild und müssen präsent sein. Der Plot erhöht die Herausforderung: Was wir hier erleben, ist jenseits der übernatürlichen Elemente ein Psychodrama, das schon oft durchgespielt wurde. Wie so oft ist es die gelungene Variation des Bewährten, die den Spannungsfaktor ergibt. Geoghegan hatte ein gutes Händchen bei der Wahl seiner Darsteller. Sie alle sind keine „Stars“, sondern professionelle Schauspieler, die schon lange dabei und immer gut beschäftigt sind: Man weiß hinter der Kamera um ihre Kompetenz.
Die Kritik lobt vor allem Anne Ramsay. Die körperlich wie seelisch verletzte Marla spielt sie überzeugend. Vor allem quillt hinter dem Schmerz eine düstere Seite ihres Charakters hervor, die Ramsay erschreckend eindrücklich zu vermitteln weiß. Hinzu kommt Larry Fessenden, der einmal mehr mit seiner Rolle verschmilzt und dem man kaum wiedererkennt, oder Ezra Buzzington, der auszudrücken weiß, dass Major DiFranco aufgrund seines Kriegstraumas ein gefährlicher Mann ist, der einer tickenden Zeitbombe gleicht. Kristina Klebe, in den USA geborene Tochter einer aus Deutschland eingewanderten Familie, holt viel aus ihrer Rolle heraus. Ob sie „ein Nazi“ ist oder nicht, spielt in dieser Geschichte keine Rolle. Ihre Herkunft, ihr Name und ihr Akzent reichen aus, sie im angeblichen „Land der Freiheit“ an den Pranger zu stellen.
Das Böse oder das Verwirrte?
Ungeachtet dieser starken psychologischen Komponente geht es in „Brooklyn 1945“ wie schon erwähnt übernatürlich um. Dies beruht nicht auf kollektivem Wahn oder einem Trick: Clive Hockstatter gelingt es wider Erwarten tatsächlich, das Portal zwischen den Welten zu öffnen. Es kommt zu allerlei unheimlichen Erscheinungen, und als Höhepunkt springt das Phantom der selbstmörderischen Susan aus dem Jenseits und attackiert die arme Hildegard. Sogar einige Splattereffekte lockern den Spuk auf.
Ungeachtet der positiven Resonanz, auf die „Brooklyn 1945“ bei Kritik und Publikum überwiegend gestoßen ist, geht die Rechnung nicht wirklich auf. Nie wird deutlich, welche Geschichte Geoghegan erzählen will. Man favorisiert den Schuld- und Reue-Komplex, der keine Spuk-Unterstützung benötigt hätte. Die Freunde zerstören sich endgültig, bevor der Geist in Clives Leiche fährt und für gruselige Nachtod-Aktionen sorgt. Das Übernatürliche sorgt für Angst, aber im Eifer des Gefechts - der Diskussion - geschieht es durchaus, dass jemand den blutgurgenden Geist anfaucht, er solle gefälligst die Klappe halten.
Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die Handlung, ohne jemals sinnvoll zur Ruhe zu kommen. „Brooklyn 1945“ soll eindeutig auch eine Geistergeschichte sein, doch warum? Stand der Unterhaltungsdruck im Vordergrund, weil in diesem Film ausgiebig geredet, aber wenig gehandelt wird? Für den Versuch, zwei Genres wie Öl und Wasser zu mischen, gebührt Ted Geoghegan Anerkennung. Gelungen ist es ihm allerdings nicht.
Fazit
Mischung aus (historischem) Psychodrama und Geistergeschichte, wobei beide sich nicht ergänzen, sondern nebeneinander herlaufen. Ausgezeichnete Schauspieler, eine ‚sprechende‘ Kulisse und die hervorragende Kamera sorgen dennoch für eine interessante Geschichte jenseits typischer Klischees.
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