Boy Kills World

Film-Besprechung von Michael Drewniok

Über die strikt abgeschirmte Stadt herrscht seit Jahrzehnten uneingeschränkt der Clan der Van der Koys. Matriarchin Hilda, Schwester Melanie und Bruder Gideon sorgen mit Zuckerbrot und vor allem Peitsche dafür, dass sämtliche Bürger für die Familie schuften und sich ihr unterwerfen.

Um ein Ventil für diese Unterdrückung zu schaffen, riefen die Geschwister das „Calling“ ins Leben: Einmal jährlich fällt das Los auf zwölf Bewohner des Slums, die vor die Kamera gezerrt und im Rahmen eines öffentlichen Spektakels grausam getötet werden.

Vor Jahren hatte es „Boy“, seine Mutter und Schwester Mina getroffen. Während letztere starben, konnte Boy in die Wildnis jenseits der Stadtgrenze entkommen. Dort wäre er zugrunde gegangen, hätte ihn nicht der mysteriöse „Schamane“ gefunden und ‚gerettet‘. Im Rahmen einer grausamen, sich über Jahre hinziehenden ‚Ausbildung‘ drillte der Schamane den Jungen zu einer Kampfmaschine.

Als beide eines Tages den Stadtmarkt besuchen, wird Boy Zeuge, wie neue Opfer für das „Calling“ zusammengetrieben werden. Die Erinnerung an das eigene Schicksal lässt ihn zur Tat schreiten: Der Tag der Rache ist gekommen! Gegen den Willen des Schamanen, der eine Falle wittert, will Boy ins Hauptquartier der Van der Koys eindringen und dort jedes Familienmitglied mitsamt ihren Schergen töten!

Boy ist zwar stark, aber naiv. Natürlich rechnen die Van der Koys mit Attentatsversuchen und haben entsprechende Vorbereitungen getroffen. Die in Familiendiensten stehende Super-Soldatin June 27 freut sich auf eine echte Herausforderung. Zwei wirre ‚Widerstandskämpfer‘, die zu Boy stoßen, bringen dessen Attacken erst recht durcheinander, zumal ihm auch noch der Geist von Schwester Mina im Nacken sitzt ...

Darf man das (unterhaltsam finden)?

Wenn gewisse Kritiker sich publikumswirksam aufregen wollen, schauen sie sich Filme wie diesen an, in denen elementare Werte (bzw. Menschen) systematisch mit Füßen getreten werden, wobei abgetrennte Köpfe und Gliedmaßen mit Blut u. a. Körperflüssigkeiten um die Wette spritzen. Dies wird kunstvoll auf die Spitze getriebenen und zelebriert, während sich vor der Leinwand oder Bildschirm zynische, abgestumpfte, pervertierte Zeitgenossen an diesem Pandämonium erfreuen, das - zum Unwillen erwähnter Kritiker - „Gewalt“ überaus unterhaltsam präsentiert: Wieder einmal ist das Abendland dem kulturellen Untergang geweiht!

Um hier einen klaren Kopf zu bewahren, muss man über die Fähigkeit verfügen, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Was im realen Leben kriminell und verabscheuungswürdig ist, kann im Rahmen einer Geschichte eine Qualität gewinnen, die auf der fiktiven Ebene für Spannung und Humor sorgt. Dies ist keine aus der Luft gegriffene Rechtfertigung; der Mensch erzählt sich seit jeher gruselige Geschichten, die als „Märchen’ sogar Kindern vorgetragen wurden und werden: Dahinter steckt ein pädagogischer Impuls, wonach die Bösen dieser Welt zwar zunächst siegen, aber letztlich doch fallen, weil sie eine brave Seele zu Fall bringt; dies freilich notfalls unter Einsatz eines scharfen Schwerts oder einer ähnlichen Waffe. Vor der Erfindung der „political correctness“ ging man offenkundig davon aus, dass Kinder sehr wohl zwischen Wahrheit und Imagination zu unterscheiden wissen.

Dass „besorgte Stellen“ anders denken, demonstriert/e hierzulande u. a. die „Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft“ (FSK). Sie ließ auch in diesem Fall ihre Bedenken einfließen, indem sie „Boy Kills World“ erst ab 18 Jahren freigab. Immerhin zwang man das veröffentlichende Label nicht wie viel zu oft in der Vergangenheit zum Einsatz der Schere, die in diesem Umfeld vom nützlichen Arbeitsinstrument zur Waffe der Zensur degeneriert. Wie üblich blieb die Frage offen, ob solche Besorgnis nicht aufgrund des inhaltlich wie formal sehr offensichtlich ins Absurde überspitzten Inhalts übertrieben ist. Dem Gesetz wurde jedenfalls Genüge getan.

Das Blut ist rot, der Humor ist schwarz

Ein von „Kill Bill“ ausgebildeter „John Wick“ kämpft wie „Deadpool“ in „Sin City“ gegen eine Auswahl grotesker Unholde, die ansonsten von „Batman“ vermöbelt werden: Damit lässt sich nicht nur die Handlung in Worte fassen. Auch formal folgt „Boy Kills World“ diesen u. a. schamfrei überzogenen Spektakeln, in denen das ökonomische Erzählen einer plausiblen Story eher unwichtig ist: Auge und Hirn des Zuschauers sollen durch einen Overkill bizarrer, so (hoffentlich) nie gesehener Effekte betäubt werden, wodurch die Eindimensionalität der Hintergrundgeschichte in den Hintergrund rückt. Die Ära der „Marvel“-Blockbuster belegt, dass diese Rechnung sehr wohl aufgeht.

Glücklicherweise (bzw. schlau) vermeidet Regisseur Moritz Mohr (von dem auch die Idee für „Boy Kills World“ stammt) jeglichen Anschein einer ernstgemeinten Story. Bereits die Kulissen spiegeln in ihrer wilden Mischung aus Realität und Retro den Comic-Charakter wider. Die Stadt der Van der Koys wird weder chronologisch noch geografisch verortet. Sie existiert ausschließlich als Ort des hier präsentierten Geschehens. Jeder Schauplatz unterwirft sich dem Schaueffekt. Das Szenenbild gibt die Art der jeweils zelebrierten Kampfgewalt vor. Dahinter steckt auch ökonomisches Denken. Der Finanzrahmen war eng, was jedoch aufgrund gründlicher Planung zu keiner Effektminimierung führte. (Der Gag ist langbärtig, doch Mohr stammt aus Deutschland und versteht es womöglich deshalb, möglichst viel Schauwert aus jedem Cent zu pressen.)

Für die Sorgfalt, die Mohr und sein Team generell an den Tag legten, zollte ihnen eine beachtliche Schar günstig (oder objektiver) gestimmter Kritikern zu Recht viel Lob. Hier soll’s krachen, und dem haben sich sowohl die Örtlichkeiten als auch die Naturgesetze zu beugen: Selbstverständlich ist es in erster Linie komisch, wie viel Boy (aber auch June 27 und erst recht der Schamane) einstecken müssen und können, um anschließend umgehend und ungeachtet definitiv lebensgefährlicher Wunden Fäuste & Füße erneut durch die Luft wirbeln zu lassen!

Witz muss man ernstnehmen

„Boy Kills World“ profitiert vom Spiel mit den budgetbedingten Einschränkungen. Für das Drehbuch resultierte daraus sogar eine seltene Freiheit: Filme, in denen nicht dreistellige Millionensummen verdreht werden, unterliegen weniger dem Würgegriff nervöser Geldgeber, für die das Einspielergebnis jederzeit über Filmhandwerk oder gar -kunst steht. Mohr und seine Drehbuch-Mitautoren wollten es auf die Spitze treiben - und sie taten es.

Dies rückt „Boy Kills World“ in die Nähe moralisch angenehm fragwürdiger Trash-Klassiker wie „Hobo with a Shotgun“ (2011), „Father’s Day“ (2011) oder „Hardcore Henry“ (2015). Hier ist ebenfalls der (blutige) Wahnsinn (oder der absichtlich-fröhliche Tabubruch) Programm. (Dass Sam Raimi als Produzent fungiert, überrascht nicht, denn „Boy Kills World“ erinnert an dessen „Evil-Dead“-Trilogie oder an „Darkman“.)

Boy ist alles andere als ein Superheld. Planung ist nicht sein Ding, er stürzt sich ins Getümmel. Da es der Schamane versäumt hat, ihn auf die Regeln des zwischenmenschlichen Gemeinschaftsalltags vorzubereiten, versteht Boy das Denken und Handeln seiner Mitmenschen nicht. Daraus speisen sich zahlreiche Gags, die zielsicher nicht ulkig, also harmlos sind, sondern das Geschehen durch groteske Zwischenfälle und Fehlentscheidungen in neue, unerwartete Richtungen treiben. Sicher darf man nur sein, dass bald erneut und buchstäblich die Fetzen fliegen werden.

Man muss sich darauf einlassen

Ein gutes Händchen bewies Mohr bei der Wahl seiner Darsteller. Bill Skarsgård ist ausgezeichnet als ebenso durchtrainierter wie geistig ständig überstrapazierter, nie wirklich erwachsen gewordener Boy, der in der Regel keine Ahnung hat, wie ihm geschieht - was Mohr Raum für die Vorbereitung des gelungenen Finaltwist gibt - und deshalb Schädel einschlägt. Für diesen Film hat Skarsgård hart trainiert, aber er zeigt nicht nur seinen muskulös eindrucksvoll definierten Körper, sondern weiß diesen auch schwungvoll zu bewegen, wenn sich Boy in einen Kampf stürzt. Zu guter Letzt kann er sich den Zuschauern ‚mitteilen‘, obwohl er sich - weil zungenlos - nur über eine (nachsynchronisierte) Fremdstimme artikuliert. Boy ist taub und stumm, aber mehr als ein tumber Totschläger; man versteht, was ihn umtreibt.

Wie schon in der Serie „Hemlock Grove“ (2013-2015) tritt Famke Janssen gemeinsam mit Skarsgård vor die Kamera. Sie spielt die von Cäsarenwahn und Angst zerfressene Hilda Van der Koy routiniert, wird aber in Sachen hemmungsloser Bosheit von Michelle Dockery alias Melanie in den Schatten gestellt, die bis an ihr unseliges Ende grell jenseits jeglicher Skrupel agiert. Lob gebührt außerdem Brett Gelman als Michelles gleichermaßen rücksichtsloser wie unterbelichteter Gatte Gideon.

Eine spezielle Erwähnung verdient - natürlich - Yayan Ruhian als „Schamane“. Er dürfte Filmfans, die eine härtere Gangart bevorzugen, aus dem Action-Thriller „The Raid“ (2011) unvergessen als Ein-Mann-Waffe sein, dem selbst zwei ebenso übermenschlich fähige Hand-und-Fuß-Krieger nur gerade so gewachsen sind - eine Konstellation, die Mohr im Finale aufgreift und damit so deutlich auf den genannten Film verweist, dass es kein Zufall sein dürfte. Dass Ruhian schon weit über 50 Jahre alt ist, will man ihm, der in den Kampfszenen der Schwerkraft trotzend ständig im Bild ist, keineswegs glauben!

„Boy Kills World“ für das Heimkino

Die Extras zum Hauptfilm bleiben mager bzw. mehr oder weniger verkappte Werbung. Sowohl „Total Bedlam“ - angeblich ein Making of - als auch die Featurette „Behind the Scenes“ sind ein lauter, aber tonloser Chor begeisterter Stimmen der vor und hinter der Kamera Beteiligten. Man lobt einander über den grünen Klee und mimt vertragsgemäß Seligkeit, weil man am besten Film des Jahres/der Welt/der Filmhistorie beteiligt sein durfte. Ansonsten gibt es nur den deutschen bzw. englischen Trailer zum Film.

Fazit

Die schmale Story trägt den simplen, aber clever umgesetzten Plot. Sie ist inhaltlich mit diversen überraschenden Widerhaken gespickt, wird optisch opulent in ein unterhaltsames Gewalt-Epos verwandelt und profitiert von engagiert aufspielenden Darstellern: Hier steht der grobe Spaß im Vordergrund, und der ist filterfrei gewährleistet!

Wertung: 8

Bilder: © Constantin Film

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