Film:
Das Spiel
Film-Kritik von Yannic Niehr / Titel-Motiv: © Netflix
Totale Sonnenfinsternis
Ein hübsches, kleines Ferienhaus mit Seeblick, fernab der Stadt. Dort wollen Gerald und Jessie Burlingame ihr freies Wochenende verbringen. Doch handelt es sich nicht um eine Vergnügungsreise, sondern um den Versuch, ihre Ehe zu kitten. Im Bett ist die Luft schon lange raus. Um das Feuer wieder etwas anzuheizen, hat Gerald sich ein ganz besonderes kleines Spiel ausgedacht: Jessie wird mit Handschellen an die Bettpfosten gefesselt. Schnell merkt sie, dass das so gar nicht ihr Ding ist, und bittet Gerald, sie wieder loszumachen – eine Bitte, die dieser ignoriert. Als sich Jessie im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Wehr setzt, erleidet Gerald einen Herzanfall. Tot geht er zu Boden, und Jessie ist allein – allein und immer noch ans Bett gefesselt.
Gerald hat zur Vorbereitung keine Kosten und Mühen gescheut: der Rasen wurde frisch gemäht, das ganze Haus sauber hergerichtet und den Putzleuten das Wochenende freigegeben. Die nächsten Nachbarn haben im letzten Gespräch fallenlassen, dass sie erst nächsten Monat wieder runter an den See fahren wollen. Niemand kann Jessie hören, niemand ihr helfen. Ihr einziger Besucher ist ein ausgehungerter, herrenloser Hund, der in Geralds Leiche ein unverhofftes Festbankett vorfindet. Schon bald flüchtet sich Jessie in ihren Kopf, führt Selbstgespräche mit verschiedenen Teilen ihrer Persönlichkeit. Am Ende jedoch ist ihr klar, dass es hier ums blanke Überleben geht. Doch wie soll sie sich befreien? Die Uhr tickt – denn in der ersten Nacht muss sie feststellen, dass sie doch nicht ganz so allein ist, wie sie geglaubt hat…
Flanagan, der King-Versteher
Nur ein Stephen King könnte eine derart absurde Prämisse in ein spannendes Psychospielchen verwandeln, ohne die groteske Situation ihres immanenten Humors zu berauben. Dennoch gehört Gerald’s Game (zu Deutsch: Das Spiel) nicht unbedingt zu seinen bekanntesten oder beliebtesten Werken. Die Grundidee scheint auf den ersten Blick unverfilmbar, bis einem einfällt, das ja auch bereits Misery mit Kathy Bates sehr überzeugend auf die Kinoleinwände gebracht wurde, obwohl dort das Gerüst der Story – ein ans Bett gefesselter Protagonist in Gefahr und damit ein sehr überschaubares Setting – durchaus Parallelen zu Jessies Martyrium aufweist (tatsächlich hat aber Das Spiel zu einem ganz anderen King-Buch eine Verbindung, nämlich Dolores: beide entstanden zur gleichen Zeit als eine Art Doppelroman mit thematischen Überschneidungen, und während einer zentralen Szene mit einer Sonnenfinsternis teilen die jeweiligen Protagonistinnen kurzzeitig eine Art telepathisches Band; diese Anspielung ist, neben weiteren auf Kings Oeuvre, auch im Film zu finden). Davon hat sich der bekennende King-Fan Mike Flanagan aber nicht abschrecken lassen – und eine ganz besondere Adaption vorgelegt, die seit 2017 auf NETFLIX zu sehen ist.
Flanagan machte zunächst mit seinem Kurzfilm Oculus von sich reden (den er später selbst in Spielfilmlänge neu inszenierte), dürfte Horrorfans darüber hinaus aber vor allem durch seinen seit 2018 ebenfalls auf NETFLIX zu sehenden Serienhit Spuk in Hill House bekannt sein (ebenfalls eine sehr sehenswerte Adaption mit einem ungeheuer originellen und spannenden Ansatz: Dialoge, Themen, Motive und Figurennamen aus Shirley Jacksons mehrfach verfilmtem, wegweisenden Schauerroman wurden eingebettet in eine völlig neue Story – nämlich eine visuell einzigartige und psychologisch vielschichtige Horror-Familiensaga).
Im zeitgenössischen Horrorfilm ist es immer wieder erfrischend, Regisseure am Werk zu sehen, deren Filme eine eigene Handschrift tragen. Flanagan wiegt einen zunächst mit malerisch-verträumten Weichzeichner-Bildern in Sicherheit, in welche sich dann klammheimlich ein düsteres Unwohlsein einschleicht und die idyllische Atmosphäre verdrängt (ähnlich wie King oftmals seinen Schrecken sich langsam in auf den ersten Blick harmloser Alltäglichkeit breitmachen lässt). Dabei besticht er vor allem mit seiner detailverliebten Mise en Scène und seinen symmetrischen, einprägsamen Bildaufbauten, die entfernt an Stanley Kubrick erinnern. Vielleicht ist es deshalb auch kein Zufall, dass Flanagan sich für die Verfilmung von Kings Shining-Fortsetzung Dr. Sleeps Erwachen verantwortlich zeichnet, die im November 2019 in den deutschen Kinos startete. Nun ist Stephen King ja bekanntermaßen nicht gerade ein Fan von Kubricks The Shining, und auf gewisse Weise lässt sich nachvollziehen, warum: aufgrund des Themas von Jack Torrances Alkoholsucht handelt es sich wohl um ein ausnehmend persönliches Buch für den Autor, und gerade die emotionale Komponente eines im Grunde guten Mannes, der sich wieder bessern will, aber den seine Dämonen schleichend in den Wahnsinn treiben, interessiert den eher kalten und sterilen Kubrick in seinem Werk scheinbar gar nicht. Dass The Shining trotzdem ein verstörendes Horror-Meisterwerk ist, lässt sich aber nicht abstreiten. Flanagan spielt nicht ganz in derselben Liga – wer könnte das schon – aber den Anspruch muss dieser kleine, aber feine Psychothriller auch gar nicht erfüllen. Sehenswert ist er allemal.
Keine Angst vor dem Mondlichtmann
Große Teile der Buchvorlage schildern Jessies Zwiegespräch mit verschiedenen Aspekten ihres eigenen Geistes, verkörpert durch Fantasiegebilde oder tatsächliche Personen. Im Buch sind dies u.a. ihre ehemalige Therapeutin, eine nicht auf den Mund gefallene Freundin aus Collegezeiten und eine Verkörperung ihrer unterwürfigen Seite mit Namen „Goodwife“ Burlingame. Der Film verschmilzt diese zu zwei Gestalten, mit denen Jessie kommuniziert: eine taffe, idealisierte Version ihrer Selbst und ein manchmal mitfühlendes, aber meistens eher hämisches Abbild ihres gerade als Hundefutter endenden Ehemannes. Dies ist ein gelungener Kniff, denn gerade Bruce Greenwood als Gerald bekommt so ein bisschen mehr zu tun als sein Gegenstück im Roman. So gelingt es Greenwood auch, dem schleimigen Unsympathen und seiner Beziehung zu Jessie überraschende Tiefe zu verleihen. Carla Gugino als Jessie trägt natürlich den Film und damit lastet ein ganz schönes Gewicht auf ihren Schultern, das sie aber mühelos stemmt. Dabei muss sie durch so ziemlich jede denkbare Emotion durch, und der Zuschauer fühlt jede Sekunde mit.
Ein großes Lob gebührt aber auch den Darstellern von Jessies Familie (schaut man sich zunächst die Schauspielerriege in Das Spiel und sodann die in Spuk in Hill House an, kommt man sich fast vor wie bei einem Ehemaligentreffen – Flanagan arbeitet scheinbar gern mit einem festen Ensemble), allen voran Chiara Aurelia als junge Jessie, die für ihr Alter eine echte Glanzleistung abliefert. Die Rückblende zum Familienausflug in das Haus am See in Jessies Kindheit ist thematisches Herzstück der Geschichte: während die Familie die Sonnenfinsternis (von Flanagan in unwirkliches, beklemmendes Rot getaucht) vom Boot aus betrachtet, machen es sich Jessie und ihr Dad am Ufer gemütlich. Letzterer scheint aber mehr als nur väterliche Gefühle für sie zu hegen… Missbrauch findet hier eher indirekt statt, dennoch ist die Szene äußerst unbehaglich, und schlimmer noch die darauffolgende perfide emotionale Manipulation, mit der Jessies Dad sie zum Schweigen bringt. Jener Nachmittag am See ist das Trauma, welches Jessie bis heute umtreibt und sie, alleine und ans Bett gefesselt, wieder einholt. Je mehr sich ihre Zurechnungsfähigkeit von ihr verabschiedet, desto mehr lässt Flanagan unterschiedliche Realitäts- und Zeitebenen ineinanderfließen – eines seiner Markenzeichen.
Besonders unheimlich gelungen sind auch die nächtlichen Szenen, in welchen Jessie plötzlich einen riesigen, deformierten Mann stumm in der Ecke des Zimmers stehen sieht, der ein kleines Kästchen voller Knochen mit sich führt. Flanagan vermag diesen „Mondlichtmann“, wie Jessie ihn tauft, auf ganz unaufgeregte Art und Weise so unheimlich zu inszenieren, wie er im Buch beschrieben wird. Dies wird unterstützt von der Tatsache, dass der Film fast komplett ohne musikalische Untermalung auskommt und nur ein naturalistisches Sounddesign nutzt (abgesehen von dem Song Bring it on Home to Me, der inhaltliche Signifikanz besitzt und den man nach diesem Film vermutlich nie wieder so hören wird wie vorher). Ist die Erscheinung nur eine Halluzination, hervorgerufen durch das Schattenspiel des Mondlichts? Der Tod selbst? Oder jemand ganz anderes? An dieser Stelle soll nur verraten werden, dass für Jessie dieses Wesen zur Versinnbildlichung all der Männer in ihrem Leben wird, die sie – metaphorisch wie wörtlich – unterjocht haben. So gerät der Film insgesamt zu einer interessanten Charakterstudie darüber, wie schmerzhaft es sein kann, sich von emotionalen und/oder psychischen Fesseln zu befreien.
Glänzen kann der Film vor allem mit seinen gelungenen technischen und ästhetischen Kniffen, sowie mit einer Menge Suspense (der Wiederanschauungswert ist besonders hoch, da Flanagan sorgsam kleine Details und Hinweise schon früh einstreut, die auf das Unheil hindeuten und später für Jessies Überlebenskampf Bedeutung gewinnen). Dabei wird fast gänzlich auf Schockeffekte oder Splatter verzichtet (aber Vorsicht: eine Szene gegen Ende erfordert dann doch einen starken Magen!). Lediglich Kings typischer Witz kann nicht ganz in die Verfilmung herübergerettet werden. Jessies Selbstgespräche sprühen im Buch vor herrlich schwarzem Galgenhumor. Im Film erlauben die Monologe von Jessies „Gesprächspartnern“ zwar interessante Einsichten in ihren Kopf, geraten aber – obwohl hier schon ordentlich eingedampft wurde – hin und wieder etwas lang und zu explizit. Flanagan hätte experimentell sein und ruhig versuchen dürfen, noch mehr des Textes in visuelle Filmsprache zu übersetzen. Dem Gesamtgenuss – vor allem für diejenigen, die die Buchvorlage nicht kennen – tut das aber kaum einen Abbruch.
Fazit:
Es, Friedhof der Kuscheltiere, Im hohen Gras, Dr. Sleeps Erwachen – King-Adaptionen sind im Moment wieder groß im Kommen. Das Spiel muss sich da gar nicht hinter den Kollegen auf der großen Leinwand verstecken. Ein absolut sehenswerter NETFLIX-Geheimtipp!
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