Die Stadt, die das Atmen Vergaß

  • Blessing
  • Erschienen: Januar 2006
  • 2
Die Stadt, die das Atmen Vergaß
Die Stadt, die das Atmen Vergaß
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Michael Drewniok
90°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJul 2006

Besuch aus dem Meer, der dort viel zu lange trieb…

Bareneed ist ein Städtchen an der neuenglischen Atlantikküste, das seinen Namen – ";Blanke Not” – inzwischen zu Recht trägt. Die einst blühende Fischerei liegt am Boden, seit die schier unendlichen Kabeljauschwärme verschwunden sind. Arbeits- und Hoffnungslosigkeit machen den Bewohnern zu schaffen, Alkoholismus und häusliche Gewalt sind die Standarddelikte, wenn Polizist Brian Chase zum Einsatz ausrückt. Seit kurzem geht zusätzlich das Gespenst einer unbekannten Seuche um. Kerngesunde Männer und Frauen leiden unter Attacken mörderischen Jähzorns, stellen plötzlich das Atmen ein und sterben; eine Ursache können die Ärzte nicht finden. Erst noch unbemerkt, dann immer offener mischen sich bewaffnete Soldaten ins Stadtbild. Sie scheinen Bareneed zu bewachen und seine Bürger an einem Verlassen des Orts zu hindern.

Von allen diesen Vorfällen erfährt der Fischereiinspektor Joseph Blackwood zunächst nichts. Er hat andere Sorgen, lebt seit kurzem von seiner Frau getrennt. Mit der achtjährigen Tochter Robin will er sich in Bareneed erholen. Diese verfügt über die Gabe des Zweiten Gesichts, was sie sehr viel deutlicher als der Vater erkennen lässt, dass es umgeht in dem Hafenort. Die vor anderthalb Jahren verschollene Jessica, Tochter der Nachbarin, erscheint Robin und versucht sie in die Tiefen des Meeres zu locken, in denen sie offenbar ihr Ende gefunden hat.

Das Meer wird zur generellen Quelle des Schreckens. Die Leichen vor Jahrhunderten ertrunkener Seefahrer werden an den Strand getrieben, Albinohaie, Nixen und andere Kreaturen tauchen auf, Geister materialisieren sich in der Nacht und terrorisieren die Menschen. Eine Flucht ist unmöglich, denn das Militär hat Bareneed heimlich abgeriegelt. Jessica holt sich Robin, für Joseph brechen Stunden des Grauens an, das nun offen die Herrschaft über den Ort antritt …

Phantastisch-mysteriöse Geschichte mit handfesten Horror-Elementen

Wenn sich ein von der Kritik anerkannter Literat in den niederen Gefilde der Unterhaltung niederlässt, begibt er (oder sie) sich in die risikoreiche Position zwischen Hammer und Amboss. Während der Umgang mit Worten meist nichts zu wünschen lässt, leidet die erzählte Geschichte oft arg unter der Unkenntnis des Verfassers, der die durchaus existierenden Regeln dieser gar nicht so simplen Unterhaltung entweder nicht kennt oder ignoriert. Mit ";Die Stadt, die das Atmen vergaß"; gelingt Kenneth J. Harvey der beschriebene Spagat beinahe über die gesamte Distanz seines ziemlich voluminösen Romans. Er verknüpft schriftstellerisches Geschick mit einer Story, die den Freunden phantastischer Geschichten einerseits gefallen dürfte, während sie andererseits spannend und ohne mutwillige, als 'Kunst' gedachte stilistische Verfremdungen, sondern chronologisch und unter Einsatz vieler bewährter, einfallsreich variierter Spannungseffekte erzählt wird.

";Die Stadt…"; ist dabei trotz des ständigen Wirkens geisterhafter Elemente mehr Mystery als ";richtiger” Horror. Für das seltsame Geschehen in und um Bareneed hat der Verfasser durchaus eine 'Erklärung'. Sie ist freilich der Punkt, der das Geschehen im Finale zum Kippen bringt. Die Lösung soll hier nicht verraten werden. Soviel sei jedoch gesagt: Sie funktioniert, stellt aber nicht wirklich zufrieden – ein altes Leiden von Geschichten, die Geheimnisvolles schildern, was in der Regel so lange gut klappt, bis der Handlungsknoten geschürzt wird.

Glücklicherweise sind mehr als 450 Seiten zu lesen, bis es Ernst wird mit dem Finale. Harvey hält die Fäden bis dahin fest in der Hand. Geschickt schürt er die Spannung, die mit jedem seltsamen Ereignis zunimmt. Das Mysteriöse weiß der Autor mit eindrucksvoller Prosa zu schildern: Der Leser 'sieht', doch er muss sich tatsächlich das Geschilderte aus den beschreibenden Worten des Verfassers zusammensetzen – und diese sind immer mehrdeutig!

Wenn sich über Harveys Figurenzeichnung etwas Generelles sagen lässt, dann ist es ein Lob über die harmonische Gestaltung aller auftretenden Personen. Hier fällt niemand aus dem Rahmen, entpuppen sich brave Bürger nicht als verkappte Serienkiller mit Dachschaden oder mutieren plötzlich zu Superhelden, die den Spukbolden tüchtig auf die Mütze geben. Harvey hat ein Händchen für die Gestaltung seiner stolzen, störrischen, exzentrischen Küstenbewohner, was kaum verwundert, gehört er doch selbst von Geburt an zu ihnen. Er vermag sich in diesen Menschenschlag hineinzuversetzen und schildert ihn weder nostalgisch verklärt noch komödienstadlhaft verkaspert, sondern nüchtern und unter Berücksichtigung weniger angenehmer Seiten, wozu ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber 'Fremden' und – damit verhängnisvoll eng zusammenhängend -Veränderungen gehört. Weil Bareneed einen Mikrokosmos darstellt, kann das Verhängnis die Stadt in die Zange nehmen. Man redet nicht miteinander über Privates, wozu Gefühle aller Art gezählt werden, die zu zeigen als Schwäche gilt. Weil man sich nach außen isoliert, fällt es sowohl dem Grauen als auch dem Militär leicht, Bareneed zu isolieren, ohne dass der Rest der Welt davon erfährt.

Mit dem Rücken zur Wand beginnen auch Geister zu kämpfen!

Menschen in der Krise gehören zu den Favoriten der meisten Unterhaltungsschriftsteller. Leider gleiten sie in der Schilderung gern in die Untiefen des Klischees ab. Harvey beherrscht dagegen auch hier sein Handwerk. Seine Figuren leiden nicht demonstrativ. Ihre Gefühle sind nachvollziehbar und Teil der Handlung. Die Familie Blackwood wirkt lebensecht, Töchterlein Robin nervt nicht als disneyoides Retortenkind. Ihre Nachbarin Claudia, die sich nach dem Verlust ihrer Familie verhungern und verdursten lässt, wird durch das Erscheinen der Geister von Ehemann und Tochter nicht 'erlöst', sondern in ganz neue Abgründe der Furcht gestürzt: Die Toten können von den Lebenden nicht lassen und sind überaus egoistisch in ihrer Einsamkeit und sehr zielstrebig in ihrem Bestreben, diese zu sich zu holen.

Wenn jemand wenigstens annähernd begreift, was in Bareneed vor sich geht, so sind dies zwei absolut unterschiedliche Personen. Miss Eileen Laracy personifiziert das alte Bareneed, das im Einklang zwischen dem 'richtigen' Menschsein und den Urmächten der Natur existieren konnte, während der von 'draußen' stammende Lieutenant-Commander French zwar in der Lage ist, dieses Verhältnis theoretisch zu erfassen, ohne sich jedoch auf sein Wissen einzulassen. So nimmt das Verhängnis seinen Lauf, um sich letztlich als selbstregulatives Instrument einer von der Zivilisation vergewaltigten Natur zu entpuppen. (Nun gut, so viel sei verraten, doch ich bin sicher, mich erforderlich nebelhaft ausgedrückt zu haben…)

Sucht man nach einer Schublade für ";Die Stadt";…, so würde diese irgendwo zwischen Stephen King, Peter Straub und Clive Barker zu orten sein. Allerdings muss sich Harvey vor diesem Trio keineswegs verstecken. Wäre da nicht das Finale, das nun doch literarische Höhen sucht, um sich aus der Falle zu befreien, in welche die Suche nach einer 'realistischen' Auflösung – die es nicht geben kann – die Story stürzt, dürften wir Kenneth J. Harvey zu einem ebenso anspruchsvollen wie unterhaltsamen Beitrag zum phantastischen Genre beglückwünschen. So bleibt immerhin ein richtig gutes Buch abseits allzu ausgetretener Genre-Pfade.

Die Stadt, die das Atmen Vergaß

Kenneth J. Harvey, Blessing

Die Stadt, die das Atmen Vergaß

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