Der Lamo-Kodex

  • Edition Phantasia
  • Erschienen: Januar 2010
  • 0
Der Lamo-Kodex
Der Lamo-Kodex
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Thomas Nussbaumer
72°1001

Phantastik-Couch Rezension vonNov 2010

Atlantis liegt in der <i>Innenwelt</i>

Wer nach Atlantis googelt, gelangt schnell auf esoterische, bestenfalls unfreiwillig komische Seiten. Da darf man sich von selbsternannten Schamanen Computer-Aura-Bilder zeichnen lassen oder man kann kitschige Kristall-Anhänger erstehen. Ein Lego-System verwandelt Kinderzimmer in Unterwasserwelten. Aber was macht die derart starke Faszination eines Mythos aus, der seit Platon in unseren Köpfen herumspukt, zwischen historischen Tatsachen und Fiktion? Ist es überhaupt möglich, der Geschichte von der untergegangenen Zivilisation noch neue Aspekte abzugewinnen? Autoren (besonders der Kitsch- und Esoteriksparte) haben sich reichlich an diesem Thema versucht. Und es existieren mindestens so viele wissenschaftliche Ansätze zur Lokalisierung des historischen Atlantis. Man wähnte die Insel im Mittelmeer, im Schwarzen Meer oder im Atlantik. Eins scheint aber schon vor der Lektüre des "Lamo-Kodex" klar: dass es sich hierbei nicht um Esoterik, sondern um ansprechende Phantastik in einem ethnologischen Kontext handeln soll.

Die Atlanter wurden in Blankertz´ Roman vor 3600 Jahren bei einem Vulkanausbruch ins Innere der Erde geschleudert. Wie das physikalisch funktioniert haben soll, erfahren wir nicht. Die Innenwelt, worin die Atlanter seither leben, geht allerdings weniger auf den Einfallsreichtum des Autors, als auf Theorien einiger Gelehrter des 19. Jahrhunderts zurück, die der Meinung waren, dass die Erde hohl ist und dass in ihrem Innern Leben möglich sei. Die Kontinente liegen auf der Innenseite der Erdhohlkugel. Nur die violette Zentralsonne im Zentrum verhindert, dass sich die Inseln "kopfunter" an der Decke hängen sehen. Die Atlanter leben in Höhlen des Erdmantels, um der Hitze und der mörderischen Strahlung des Zentralgestirns zu entgehen. Eine interessante Ausgangslage für eine Fantasy-Geschichte. Und Blankertz gibt sich alle Mühe, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Er hat eine eigene Sprache (eigentlich sogar zwei, denn Atlantis besteht aus zwei Hemisphären, die von zwei Völkern bewohnt werden) und eine Topografie entworfen, die die Orte der Inseln genau benennen. Weiter ist es ihm gelungen, die Atlanter durchaus als "fremde Menschen" zu zeichnen. Beispielsweise benutzen sie andere Gesten und mimische Ausdrücke, die bei der (ersten) Begegnung mit den Menschen der Oberwelt für Missverständnisse sorgen. Im Verlauf der Geschichte wird immer wieder über die Innenwelt-Theorie debattiert, so dass die Fiktion eine gewisse realistische Basis erhält. Der Anhang des Buches enthält dann noch eine Karte, Verben-Konjugationstabellen(!) und einen atlantischen Wörterindex. Für den geneigten Hobby-Philologen.

Atlanter im Affengehege

Die Geschichte beginnt damit, dass im Affengehege des Kölner Zoos von der Polizei vier seltsam gewandete Gestalten, eine davon nackt, aufgegriffen werden. Die tauchten plötzlich aus dem Nichts auf. Bald merken die überforderten Beamten, dass diese Vertreter einer fremden Ethnie keine bekannte Sprache sprechen. Überhaupt deutet das Verhalten der vier auf fehlende Vertrautheit mit westlicher Zivilisation hin. Die Ethnologin Karolin Sombart zieht ihren ehemaligen Professor hinzu, vom dem sie sich fachliche Unterstützung erhofft. Eine Zeit lang beschäftigen sich Karolin und der Professor mit den Fremden, dabei gelingt eine erste Verständigung. Es entstehen Aufzeichnungen und Skizzen zu Sprache und Kultur der Atlanter. Die Besucher aus dem Inneren der Erde werden von den Behörden vorerst mit bedachtem Wohlwollen behandelt. Sie dürfen sich frei bewegen, wenn sie auch unter ständiger Beobachtung der Polizei stehen. Als sich die Atlanter Proviant-Nachschub besorgen wollen, den sie in ihrem Stollen im Zoo zurückgelassen haben, agieren die nervösen Beamten aber derart ungeschickt, dass es zu einer Plänkelei kommt. Es gibt Tote. Um sich zu schützen, verschwinden die überrumpelten Atlanter im Stollen und mit ihnen die Wissenschaftlerin Sombart. In der Oberwelt sind die "Wilden" darauf bald als Terroristen und Entführer verschrien, während sich Professor Brause aktiv um Schadensbegrenzung bemüht.

Im zweiten Handlungsstrang erfahren wir Genaueres über die Innenwelt. Atlantis wird von zwei Ethnien besiedelt, den herrschenden Paisei und den unterdrückten Hibala. Bei letzteren herrschen eher matriarchale Strukturen, das heisst, Frauen und Mädchen sind zuständig "fürs Grobe" und die Männer für Haus und Herd. Der Titelheld Lamo ist ein Mischling und bekommt demnach besonders die Klüfte zu spüren, die zwischen den beiden Völkern klaffen. Lamo wurde bei seiner Geburt gemäss hibalischer Tradition zu einem "heiligen Aussenweltsucher" bestimmt.

Mit Gleichgesinnten bereitet sich Lamo als Erwachsener in einer geheimen Höhle auf seine Mission vor, einen Weg in die Aussenwelt zu finden. Die Regierung der Innenwelt betrachtet derweil die Aktivitäten der Aussenweltsucher als illegal und versucht mit allen Mitteln, deren Mission zu behindern. Als eine hohe spirituelle Führerin der Hibala entführt wird, muss Lamo die Entscheidung treffen, ob er seine Bestimmung endgültig annimmt oder nicht.

Ethno-Phantastik mit akademischem Einschlag

Blankertz´ Atlantis ist eine detailreiche Welt. Sie zeigt ein Gesellschaftssystem, das sich angenehm exotisch von dem uns Alltäglichen abhebt. Die Atlanter sind uns in technologischer Hinsicht mindestens ebenbürtig, auch sie kennen und nutzen Waffen und Elektrizität. Auf Atlantis wurden immer wieder hochtechnologisierte Kriege geführt, die Erfindung des Rades ist allerdings nie gemacht worden. Die Mythologie und die Geschichte der inneren Kontinente haben dabei manchmal etwas Putziges. Ich fand es etwas merkwürdig, als da knapp viertausend Jahre Geschichte in ein paar Sätzen Revue passierten. Dabei kann sich Blankertz´ Stil nicht so recht entscheiden zwischen der saloppen Erzählweise der Oberwelt (mit knappen Dialogen und Alltags-Slang) und dem mythischen Duktus der Innenwelt, bei dem auch gerne mal mit der pathetischen Kelle gerührt wird. Wo die beiden Welten aufeinandertreffen, ist die Erzählung gespickt mit "fremdsprachlichen" Dialogen, die den Realismus der Fiktion untermauern. Mit den Akteuren bin ich allerdings nicht so recht warm geworden. Als beispielsweise der Polizist Schmidt Professor Brause von seinen Internet-Recherchen über die Hohlwelt berichtet (eine Theorie, von der einige esoterische Wissenschaftler übrigens bis heute überzeugt sind) hat letzterer noch nie etwas davon gehört und fällt fast von seinem Elfenbeintürmchen. Der Professor verhält sich auch mit Achtzig stets wie ein zwanzigjähriger Jungspund voller Tatendrang und ist treu seinen Idealen ergeben. Das war mir in einigen Szenen etwas zu unglaubwürdig, wenn auch manche davon ironisch gemeint sein durften. Darüber hinaus redet Brause immer in der Möglichkeitsform, was mit der Zeit über einen running gag hinausgeht und nervt. Trotzdem mündet die Geschichte um den Konflikt der Paisei mit den Hibala in ein spannendes Finale. Aber man spürt, dass diese Geschichte vielleicht noch ein paar Seiten mehr gebraucht hätte, um ihre volle emotionale Wirkung zu entfalten.

Zuletzt bleiben ein paar Ungereimtheiten. Zum Beispiel die Frage, weshalb noch niemand von der Aussenwelt gemerkt haben soll, dass da im Inneren unseres Planeten tatsächlich noch eine andere Welt existiert? Hätte tatsächlich niemand einen der Stollen entdeckt, welche angeblich den ganzen Erdmantel durchlöchern? Und was ist mit der Zentralsonne: ergäben sich von einem solchen Gestirn nicht irgendwelche messbaren Werte, die auf ihre Existenz rückschliessen liessen? Das sind Fragen, die innerhalb der Geschichte unbefriedigend ausgelassen werden. Auch wenn es eine Fiktion ist: die Szenarien, die darin entworfen werden (sowohl die Innenwelt als auch die Aussenwelt), sind einem gewissen Realismus verpflichtet, der solche Unstimmigkeiten schlecht verkraftet. Andere Autoren, die sich dem Hohlwelt-Mythos angenommen haben (z. B. Rudy Rucker mit "Hohlwelt") betten die Innenwelt bewusst in eine nicht ganz realistische, eher traumartige Sphäre. Das rückt die Geschichten zwar näher in Richtung Fantasy, aber sie werden dadurch letztlich glaubwürdiger.

Die Qualität des "Lamo-Kodex" liegt demnach nicht in der Umsetzung der Geschichte, sondern in der Vielfältigkeit der Gedanken und Ideen, was die Innenwelt und ihre Theorie betrifft.

Der Lamo-Kodex

Stefan Blankertz, Edition Phantasia

Der Lamo-Kodex

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