Wonderlands

  • wbg Theiss
  • Erschienen: September 2020
  • 2
Wonderlands
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Marcel Scharrenbroich
80°1001

Phantastik-Couch Rezension vonNov 2020

Von Asimov bis zur Zeitmaschine

Mittendrin

Manche Dinge geraten einfach nie aus der Mode: Scheinbar hat eine ganze Generation aktuell die Jogginghose für sich entdeckt, Schlager, bei denen einem als Kind beim Oma-Besuch die Ohren bluteten, werden heute von den Amigos quer durch die Charts gepeitscht und Bärte sind (vornehmlich beim Mann) wieder so beliebt, dass die Chefetagen von Gillette und Wilkinson sich gegenseitig trösten, während Robinson Crusoe sich als Trendsetter stolz auf die schmale Schulter klopft. Manga, Animes und das zugehörige Cosplay erfreuen sich seit Jahren nicht nur auf Conventions wachsender Beliebtheit und grunzende Orks sind nicht mehr nur “Games Workshop“-Veteranen und „World of Warcraft“-Spielern ein Begriff. Ja, entweder kommen Trends wieder oder sie entwickeln sich weiter. Dann gibt es noch diese, die nie wirklich weg waren. So zum Beispiel das Fantasy-Genre.

Mal mehr mal weniger präsent, ist es vor allem den Massenmedien zu verdanken, dass selbst angestaubte (jedoch stets geschätzte!) Stoffe einem breiteren Publikum bekannt wurden und noch immer werden. Man denke nur an J. R. R. Tolkiens wegweisendes High-Fantasy-Werk „Der Herr der Ringe“. Ein Klassiker durch und durch und durch die drei Verfilmungen des neuseeländischen Regisseurs Peter Jackson zu einem nicht mehr wegzudenkenden Phänomen mutiert, das nicht nur den Büchern den Staub von den Umschlägen blies, sondern auch eine gigantische Merchandise-Welle ins Rollen brachte. Klar, dass da selbst aus einem eher kleinen Büchlein auch filmisch nochmals das Maximum rausgequetscht wurde. So wuchs „Der Hobbit“ auf eine weitere Trilogie aus Tolkiens Welten an. Erneut begleitet von Figuren, Spielen, Waffen-Repliken, Nachschlagewerken und allem, was der Merch-Markt sonst noch so hergibt. Kein einmaliges Phänomen, denn wer erinnert sich nicht an den Potter-Hype, den die britische Autorin J. K. Rowling Ende des letzten Jahrtausends losgetreten hat? Lange Schlangen vor den Buchhandlungen, nächtliches Warten auf den neusten Roman, Millionen Muggel, die vom Lese-Fieber infiziert wurden… Oh ja, die erdachten „Wunderländer“ haben sich längst in unserer Welt breitgemacht. Selbst die fast bildlich beschriebenen Albträume eines H. P. Lovecraft werden so fleißig adaptiert, wie nie zuvor. „Die Farbe aus dem All“ schaffte es trotz (oder wegen?) Nicolas Cage zwar nicht in die Lichtspielhäuser, durfte aber eine erfolgreiche Heimkino-Premiere feiern. Jüngst wurde „Der Ruf des Cthulhu“ erst in einer prächtig bebilderten Neuauflage herausgebracht und Manga, Comics und Videospiele bedienen sich ebenfalls großzügig im Lovecraft’schen Fundus. Tatsächlich steht sogar ein kuscheliger, importierter Plüsch-Cthulhu in meiner kleinen Hobbit Hütte (Nein, nicht aus R'lyeh. Aus den Staaten. Also… irgendwie doch R'lyeh), wobei es dem alten H. P. wohl allein bei dem Gedanken daran den Scheitel auf die andere Seite ziehen dürfte…

Aber Ihr seht, das Fantasy-Genre ist aktueller denn je und ist aus der Pop-Kultur ebenfalls kaum noch wegzudenken. Und sollte es im Alltag doch mal wieder zu grau werden, sind Westeros, Hogwarts und Mittelerde meist nur einen Knopfdruck entfernt… oder warten im Bücherregal darauf, erneut entdeckt zu werden.

Weltenbau

Um bei den schier endlosen und kreativ gestalteten Welten, die die internationalen Schriftsteller sich scheinbar so mühelos wie selbstverständlich aus dem Ärmel schütteln, nicht den Überblick zu verlieren, empfiehlt es sich, einen Wegweiser zur Hand zu haben. Äußerst praktisch, um nicht im Kaninchenbau oder dem Cyberspace verloren zu gehen. Denn nicht nur Lewis Carroll und William Gibson waren äußerst begabt darin, phantastische Szenarien aus dem Boden zu stampfen…

3000 Jahre Fantasy wollen erstmal aufgearbeitet werden, schließlich gehört „Die Odyssee“ von Homer ebenso zu den literarischen Phantastik-Schätzen wie Dante Alighieris „Göttliche Komödie“ oder die Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“. Doch nicht nur Mythen und Legenden sind in der Fantasy zuhause, auch der wilde Conan, aus der Feder von Robert E. Howard, Sherlock Holmes-Schöpfer Arthur Conan Doyle, der 1912 mit „Die vergessene Welt“ eines der ältesten Kapitel der Geschichte aufschlug, und natürlich George Orwell, der mit „1984“ ein dystopisches Meisterwerk vorlegte, welches durch die heutige Technologie beinahe wirkt, als hätte die Realität es auf bizarre Weise überholt. Zeitgenössische Autoren sind aus der Phantastik ebenfalls nicht mehr wegzudenken. Ich denke da nur an Stephen King, der uns zwar regelmäßig mit dem realen Horror konfrontiert, mit seiner Jahrzehnte-umspannenden Saga vom „Dunklen Turm“, die sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Schaffen zieht, das Fantasy-Genre aber ebenfalls maßgeblich geprägt und ebenso bereichert hat. Nicht zu vergessen das „Tribute von Panem“-Phänomen, bei dem die amerikanische Schriftstellerin Suzanne Collins ihre taffe Heldin Katniss gleich mehrmals durch die Hölle gehen ließ, was dann auch in einer extrem erfolgreichen Kino-Tetralogie verarbeitet wurde. Wer sich hingegen in komplex-verschwurbelten Sci-Fi-Welten heimisch fühlt, ist mit Haruki Murakami bestens bedient, an dem ich mir regelmäßig die Zähne ausbeiße.

Gebündelt und kompakt

Alle genannten Beispiele finden sich chronologisch abgearbeitet in „Wonderlands“, herausgegeben von Laura Miller. Selbst Fantasy- und Science-Fiction-affine Leser werden hier noch auf Perlen stoßen, die entweder in Vergessenheit geraten sind oder gänzlich unter dem Radar flogen. Bei mir traf zum Beispiel beides zu. Hier werden nämlich nicht nur die jeweiligen Genre-Aushängeschilder behandelt, sondern auch Klassiker aus der Versenkung geholt und die schönsten Welten zelebriert, die jemals aus dem Nichts erschaffen wurden.

Aufgeteilt in fünf Kategorien, beginnt die Reise (nach einer Einleitung der Herausgeberin) mit dem Thema „Alte Mythen & Legenden“. Hier starten wir 1750 vor Christus und arbeiten uns Stück für Stück bis ins Jahr 1666 vor. Behandelt werden unter anderem Werke von Thomas Morus, Miguel de Cervantes, William Shakespeare und Cyrano de Bergerac. Ein Sprung an die Anfänge der Fantasy-Literatur, die sowohl sagen- als auch heldenhafte Erzählungen zu Tage förderte, von denen heutige Autoren noch zehren. Einflussreich und Jahrtausende überdauernd.

Das zweite Kapitel, „Wissenschaft & Romantik“, widmet sich dann von 1701 bis 1900 zum Beispiel Swifts „Gullivers Reisen“ oder dem märchenhaften Klassiker „Alice im Wunderland“, dem auch schönes Bildmaterial spendiert wurde. Ebenso Jules Vernes Abenteuer-Roman „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“ und Richard Wagners „Ring der Nibelungen“. Von L. Frank Baums „Der Zauberer von Oz“ über Robert Louis Stevensons „Die Schatzinsel“ bis hin zu H. G. Wells „Die Zeitmaschine“ tummeln sich hier erstaunlich viele Phantastik-Größen, die noch immer populär sind und gerne gelesen werden. Unvergessen natürlich auch die George Pal-Verfilmung von „Die Zeitmaschine“ mit Rod Taylor und Yvette Mimieux, deren Original-Kinoplakat sich hier abgedruckt findet.

„Das goldene Zeitalter der Fantasy“ fand zwischen 1901 und 1945 statt. Herausstechend sind hier „Der sechste Kontinent“ von Tarzan- und John Carter-Schöpfer Edgar Rice Burroughs, der „Cthulhu-Mythos“, welcher vom bereits angesprochenen H. P. Lovecraft begründet, jedoch von anderen Autoren wie Robert Bloch oder August William Derleth weiter geformt und weitergeführt wurde, der Märchen-Klassiker „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry sowie die beliebten „Mumins“-Geschichten der finnlandschwedischen Schriftstellerin Tove Jansson. Hinzu kommen erstaunlich viele Titel und Autoren, die mich höchstens mal flüchtig im Vorbeigehen erwischten. Da besteht bei einigen Werken durchaus Nachholbedarf meinerseits.

Die „Neue Weltordnung“ der Nachkriegszeit zog sich dann genau bis zum Beginn der 80er-Jahre. Trotz der Kürze eine durchaus wegweisende Epoche, entstanden in ihr doch die epischen High-Fantasy-Verkaufsschlager „Der Herr der Ringe“, „Der Magier der Erdsee“ und die magischen Leser-Lieblinge „Das letzte Einhorn“ und „Die Brautprinzessin“. Aber auch eine goldene Zeit für Science-Fiction-Freunde! Isaac Asimovs Kurzgeschichten-Sammlung „Ich, der Robot“ beispielsweise… oder Philip K. Dicks „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“. Jener Roman, der 1982 meisterhaft von Ridley Scott als „Blade Runner“ verfilmt wurde. Generell finden sich unter den Titeln erstaunlich viele Bücher, die es auf die Leinwand geschafft haben. „Die Chroniken von Narnia“, „Fahrenheit 451“, „Solaris“, Kubricks „Uhrwerk Orange“ nach dem Roman von Anthony Burgess, „Per Anhalter durch die Galaxis“, bei dem es besser nur beim genialen Buch von Douglas Adams geblieben wäre, oder „Der Planet der Affen“, bei dem sich Roman und Film doch nur im Kern ähneln, was von Autor Pierre Boulle auch öffentlich kritisiert wurde.

1981 startete abschließend „Das Computerzeitalter“. Hier reiht sich Kings „Dunkler Turm“ ein und auch der urige Stadtstaat Ankh-Morpork, welcher auf der „Scheibenwelt“ von vier Elefanten auf dem Rücken der Riesen-Schildkröte Groß-A’Tuin getragen wird, findet seinen wohlverdienten Platz. Ein extrem abwechslungsreiches Œuvre, welches die kreativen Köpfe uns da in den letzten 40 Jahren kredenzt haben! Bei Margaret Atwoods „Der Report der Magd“ geht es derart dystopisch zu, dass es fast schon wehtut, während Neil Gaimans „Sandman“-Universum wohl zum Besten und komplexesten gehört, was die Comic-Landschaft je hervorgebracht hat. David Mitchells „Der Wolkenatlas“ umfasst hingegen gleich mehrere Zeitebenen… fast so viele, wie George R. R. Martin braucht, um endlich einen neuen Ableger aus den Sieben Königslanden seines „Game of Thrones“-Universums in die Tasten zu prügeln.

Zu jedem besprochenen Werk gibt es eine Analyse sowie wissenswerte Fakten. Natürlich werden einige Bücher behandelt, die ihrerseits selber ganze Bücher füllen könnten, was jedoch den Rahmen gesprengt hätte. In der gegebenen Kürze lässt sich aber ein guter Eindruck von dem gewinnen, was den Leser beim jeweiligen Schmöker erwartet, weswegen ich „Wonderlands“ auch eher als groben Wegweiser durch die Phantastik sehe, als allumfassendes Nachschlagewerk, das jeden Aspekt bis aufs Grundgerüst seziert. Dabei sind die knappen Besprechungen meist identisch aufgebaut, was durchaus angenehm bei einer kurzen Lese-Session zwischendurch ist. Lange Sitzungen, bei denen man gleich zig Besprechungen am Stück liest, würde ich persönlich nicht empfehlen, da sich sonst irgendwann Ermüdungserscheinungen einschleichen könnten. Für Abwechslung sorgt dafür viel Bildmaterial, welches mal Cover-Illustrationen, Skizzen, Abbildungen aus Notizbüchern der Autoren, Karten der erdachten Welten, Set-Fotos von Verfilmungen, begleitende Gemälde oder Abbildungen der jeweiligen Autoren zeigt. Das doppelseitige Artwork von Josh Kirby zu Terry Pratchetts „Scheibenwelt“ hat es mir dabei besonders angetan. Hier wurde wirklich viel Sehenswertes reingepackt.

Fazit:

Für Liebhaber von phantastischen Welten (die wir in dieser heimeligen Runde wohl allesamt sein dürften) eine durchaus lohnenswerte Anschaffung. Klassiker aus drei Jahrtausenden reihen sich aneinander und obwohl man keine tiefschürfende Enzyklopädie erwarten sollte, kann „Wonderlands“ durchaus ein hilfreicher Stichwortgeber für noch unbekannte Phantastik-Kost sein, der die Titel in einer kurzen aber treffenden Analyse schmackhaft macht. Bei mir sind mindestens eine Handvoll Bücher auf der „Must Read“-Liste gelandet.

Wonderlands

Laura Miller, wbg Theiss

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