Das Institut

  • Heyne
  • Erschienen: September 2019
  • 4
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Marcel Scharrenbroich
79°1001

Phantastik-Couch Rezension vonOkt 2019

Die Nachmieter von Charlie McGee

Hinter Gitterchen - Der Kinderknast

Der zwölfjährige Luke Ellis wirkt wie ein ganz normaler Junge. Äußerlich erweckt nichts den Eindruck, dass es sich bei ihm um einen ganz besonderen Burschen handeln könnte. Er hat Freunde, spielt Basketball mit seinem besten Kumpel und macht das, was Jungs in seinem Alter nun mal machen. Lediglich seine enorm hohe Intelligenz unterscheidet ihn von den Gleichaltrigen. Da er seine Lehrer diesbezüglich bereits weit überflügelt, reißen sich gleich zwei Universitäten um das junge Genie. Und beiden will er zusagen. Gerade genug, um seinen gierigen Wissensdurst einigermaßen zu stillen. Was jedoch sonderbar an Luke ist, ist dass sich Objekte in seiner unmittelbaren Umgebung bewegen, sobald er in Rage gerät. Eine Fähigkeit, die bei seinen Eltern eigentlich die Alarmglocken klingeln lassen sollte… und dies besser mal getan hätte. Denn diese Fähigkeit wird der Familie Ellis, aus einem Vorort von Minneapolis, zum Verhängnis.

Nachts dringen Unbekannte in das Haus der Familie ein, betäuben Luke und entführen ihn. Seine Eltern werden kaltblütig getötet… und mit einem Mal ist nichts mehr, wie es war. Als Luke wieder erwacht, ist er… in seinem Zimmer? Nein. Es sieht zwar fast wie eine 1:1-Kopie seiner gewohnten Umgebung aus, ist es aber nicht. Allein die fehlenden Fenster verdeutlichen dem Jungen, dass er nicht mehr in Minneapolis ist. Er befindet sich nun im „Institut“, einer geheimen Einrichtung tief in den Wäldern von Maine (ach ne!).

Hier erfährt Luke recht schnell, wie der Hase läuft. Die Regeln sind streng und der Kontakt zur Außenwelt (bis auf einen eingeschränkten Internet-Zugang) extrem limitiert, sprich nicht vorhanden. Er erfährt, dass er wegen seiner telekinetischen Fähigkeiten dort sei… und er ist nicht das einzige Kind im „Institut“. Auch ähnlich begabte Gleichgesinnte sind dort untergebracht. Ihre Fähigkeiten unterscheiden sich dabei zwischen Telepathie und Psychokinese, der Gabe, Dinge allein durch Gedankenkraft zu bewegen. Luke findet schnell Anschluss und freundet sich mit dem Mädchen Kalisha an. Er erfährt von den Tests, die an den Kindern durchgeführt werden und den harten Bestrafungen, die durch die Leiterin Mrs. Sigsby und ihr Heer von skrupellosen Wärtern erfolgen, sollten sie nicht parieren… oder der gewünschte Erfolg ausbleiben. Durch Medikamente, Spritzen und physische Druckmittel, sollen die Talente der Kinder nämlich verstärkt und kontrollierbar gemacht werden. Aktuell befinden sich Luke, Kalisha und die anderen Kids im sogenannten „Vorderbau“ der Einrichtung. Es gibt allerdings noch den gefürchteten „Hinterbau“, aus dem bisher nie mehr ein Kind zurückgekehrt ist.

Laut Mrs. Sigsby kann Luke bald wieder in sein altes Leben, sollte er nach ihren Regeln spielen und ihr das geben, wonach sie mit allen Mitteln verlangt. Zurück zu seinen Eltern… und all das, was im „Institut“ geschehen ist, vergessen. Doch Luke ist nicht blöd. Er weiß, dass Sigsby mit falschen Karten und ebensolchen Versprechungen spielt. Als immer mehr seiner neuen Freunde in den „Hinterbau“ verfrachtet werden und die Luft auch für ihn langsam dünn wird, schmiedet er den Plan, die scheinbar unüberwindbaren Mauern zu erklimmen und aus dem „Institut“ zu flüchten…

King of (Non-)Horror?

Ein Stephen King-Werk ohne Horror, geht das? Natürlich… das hat der amerikanische Pageturner-Experte bereits mehr als einmal bewiesen. Unter anderem mit „The Green Mile“, „Dolores“ oder der Novellen-Sammlung „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“, die die Geschichten „Pin-Up“ (von Frank Darabont als „Die Verurteilten“ verfilmt und siebenfach Oscar-nominiert), „Der Musterschüler“ (gleichnamig verfilmt und sehr empfehlenswert), „Die Leiche“ (von Rob Reiner als „Stand By Me“ verfilmt und einer DER Coming-of-Age-Klassiker der 80er) und „Atemtechnik“ beinhaltet. Es muss beim Vielschreiber aus Portland nicht immer monströs zugehen, wie in „ES“, „Duddits“, „Das Monstrum“ oder „Nachtschicht“. King beherrscht aber nicht nur Drama und den offensichtlichen Horror, sondern schafft es auch immer wieder, Bedrohungen aus den scheinbar harmlosesten Gegebenheiten entstehen zu lassen… siehe die Romane „Dead Zone“, der mit dem Unfall eines gewöhnlichen Lehrers beginnt und fast im Dritten Weltkrieg gipfelt, „Shining“, in dem ein Hausmeister-Job in idyllischer Traumkulisse beinahe zum Abschlachten der eigenen Familie führt oder „Cujo“, wo King aufzeigt, dass Bernhardiner und Fledermäuse nicht so gut zusammenpassen, wie man glauben mag.

Manchmal denke ich, man könnte King eine Packung Kaugummi auf den Schreibtisch werfen, und er würde sofort einen knackigen Bestseller darüber in die Tasten hämmern. Denn gerade die scheinbar geerdeten Stoffe sind es, die immer wieder für Gänsehaut sorgen, weil sie in der Wohnung neben mir (darüber könnte ich auch ein Buch schreiben), in der gleichen Stadt oder sogar in den eigenen vier Wänden passieren könnten. „Das Institut“ gehört ebenso in diese Kategorie.

Stephen King pickt sich scheinbar wahllos eine x-beliebige Familie heraus, an der – bis auf einen hochbegabten Sohn – nichts wirklich auffällig erscheint, und lässt sie mit flinken Fingern genüsslich durch die Hölle gehen. Naja, zumindest den Spross der Familie, da er die Erziehungsberechtigten sehr schnell aus dem Rennen nimmt. Da wir durch dieses Schicksal von Anfang an mit dem Jungen mitfiebern und ihn auf Schritt und Tritt begleiten, kaum merkend, dass der Autor unseren Beschützerinstinkt damit bereits klammheimlich aktiviert hat, kleben wir an den Seiten. Wohlgemerkt NICHT von Beginn an… denn King startet mit einer äußerst langen Einführung, die noch nichts mit dem namensgebenden „Institut“ und schon gar nichts mit Luke Ellis und seiner bevorstehenden Tour-de-Force zu tun hat. Ich dachte zuerst „Nanu? Falsches Buch erwischt?“, habe es gedreht, gewendet, geschüttelt, ausgewrungen… aber dann machte es irgendwann >klick<. Der Autor teasert an, dass wir den Ex-Cop Tim Jamieson, der New York den Rücken gekehrt und in der Abgeschiedenheit einer Kleinstadt einen Job als Nachtklopfer (quasi ein unbewaffneter Wachmann, der dem örtlichen Sheriff unterstellt ist) angenommen hat, mit 100%iger Sicherheit wiedersehen werden… und dass es in seinem Örtchen noch gewaltig rappeln wird.

PSI Factor

Für seinen neusten Wälzer bedient sich King einmalmehr dem Zweig der Parapsychologie. Eine nicht etablierte Wissenschaft, die sich mit übersinnlichen Phänomenen beschäftigt und diese untersucht. Dieses Thema ist gar nicht so weit hergeholt, wie man meinen möchte. Schon 1979 leitete der deutsche Physiker und Psychologe Walter von Lucadou am Psychologischen Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ein Forschungsprojekt, welches sich über sechs Jahre zog. Seit 1989 leitet Lucadou die vom Land Baden-Württemberg bezuschusste Parapsychologische Beratungsstelle der Wissenschaftlichen Gesellschaft zur Förderung der Parapsychologie, die telefonische Beratung zu allen Teilgebieten dieses übernatürlichen Spektrums anbietet und einmalig in Deutschland ist. Ob Stephen King bei seinen Recherchen auch auf Walter von Lucadou gestoßen ist und seiner Hauptfigur in Anlehnung der Name „Luke“ verpasst wurde, ist mir nicht bekannt… aber es wäre durchaus denkbar.

Bereits in seinem Debüt „Carrie“ (1974; zwei Jahre später von Brian De Palma mit dem deutschen Beinamen „Des Satans jüngste Tochter“ verfilmt, inklusive Oscar-Nominierungen für Mutter und Tochter White) nutzte der mittlerweile zweiundsiebzigjährige Schriftsteller dieses Thema und griff es nur sechs Jahre später in „Feuerkind“ (1984 als „Der Feuerteufel“ von Mark L. Lester verfilmt und mit Drew Barrymore, David Keith, George C. Scott und Martin Sheen in den Hauptrollen) wieder auf. Während sich Carrie Whites Rache auf dem Abschlussball tödlich über ihre peinigenden Mitschüler ergießt (nachdem diese das Mädchen öffentlich mit einem Eimer Schweineblut übergossen haben), nutzt die junge Charlie McGee in „Feuerkind“ ihre pyrokinetischen Fähigkeiten, um eine Geheimorganisation - die sich „das Institut“ nennt und Experimente an unbescholtenen Probanden durchführt, um deren psychokinetischen Begabungen zu erwecken, verstärken und zu nutzen - in Schutt und Asche zu legen. Na? Klingelt da was?

>tipp-tipp-tipp-tipp-tipp-tipp-tipp-tipp-tipp-tipp-tipp-tipp... tipp-tipp-tipp-tipp-tipp-tipp<

Genau HIER ist nämlich mein Kritikpunkt an Kings aktuellem Roman. Das Ding wirkt wie ein abgewandelter Aufguss seines „Feuerkind“-Romans von 1980. Ähnlich, wie sein letztes Buch, „Der Outsider“, im Finale einem „ES“ 2.0 glich. Damit möchte ich „Das Institut“ keinesfalls schlechtreden, denn es ist noch immer ein sehr packender Mystery-Thriller geworden… dennoch scheinen Mr. King, bei aller Hochachtung vor seinem Schaffen, DIE Ideen auszugehen, die seine früheren Bücher zu absoluten Pageturner-Highlights machten, deren Veröffentlichung man stets Nägel kauend entgegenfieberte. So bleiben auch große Überraschungen in der Handlung aus und nach dem Ende der Lektüre hat man nicht das Gefühl, gerade einen King in Höchstform erlebt zu haben.

Auf 768 Seiten scheint sich Stephen King erneut die Finger wundgetippt zu haben. Damit wird er seinem Ruf, den Inhalt stets bodenständig und glaubhaft zu vermitteln, durchaus gerecht. Jedem auftretenden Charakter wird genügend Platz eingeräumt und wir bekommen als Leser nur allzu deutliche Schilderungen von den Machenschaften, die im „Institut“ vor sich gehen. Den Alltag der dort untergebrachten Kinder, die psychischen und physischen (oft schwer zu ertragenden) Misshandlungen, Lukes eigene Gedanken, die eine starke Bindung zu seinem Charakter entstehen lassen, und dem zwischenmenschlichen Austausch der Kinder untereinander (der Klub der Verlierer lässt grüßen)… und auch zum Pflegepersonal, welches vom vollkommenen Arschloch bis zur guten Seele mit dem offenen Ohr auch in allen Facetten dort angestellt ist.

Ob die Handlung - die zu weiten Teilen einem Kammerspiel gleicht, da sich der Aufenthalt im „Institut“ über gut zwei Drittel des Buches erstreckt – unbedingt auf diese Seitenstärke ausgewalzt werden musste, sei mal dahingestellt… aber ich wage zu behaupten, dass es auch ein wenig kompakter gegangen wäre, um die Story rund und nicht minder spannend zu Papier zu bringen.

Fazit:

Ein durchaus gelungener Roman, der moralische Fragen aufwirft und sich King-typisch auch nicht mit Kritik an seinem Heimatland und der dortigen Regierungsspitze zurückhält. Interessant sind die Easter-Eggs, die auf frühere seiner Werke verweisen… weniger interessant, dass die Geschichte entfernt einer Neuinterpretation von „Feuerkind“ gleicht. Insgesamt nicht Stephen Kings bester, aber auch nicht sein schlechtester Roman. Zur kreativen Höchstform fehlt aber noch ein ganzes Stück.

Das Institut

Stephen King, Heyne

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