Ragnarök - Staffel 1

Serien-Kritik von Marcel Scharrenbroich / Titel-Motiv: Katalin Vermes © Netflix

Nordisch by Nature!

Steile Karriere

Vom Sonderling zum… Halt! So weit wollen wir nicht vorgreifen, denn WAS aus Magne (David Stakston) wird, soll noch nicht verraten wird. Dieser hat es anfangs sowieso schon schwer genug, als er gemeinsam mit seinem Bruder Laurits (Jonas Strand Gravli) wieder die Schulbank in seiner Heimatstadt Edda drücken muss. Dorthin sind die Beiden mit ihrer verwitweten Mutter Turid (Henriette Steenstrup) zurückgekehrt, die einen neuen Job in der norwegischen Kleinstadt, der sie vor langer Zeit den Rücken kehrten, angenommen hat. Magne und Laurits haben nur noch schwammige Erinnerungen an diese Zeit, weshalb Edda für sie Neuland ist.

Die Handlung setzt mit stimmigem Retro-Synthie-Sound ein und lässt unseren Blick über die großartig in Szene gesetzte Landschaft streifen, während die Söhne der euphorischen Turid Seier die Ankunft in der neuen Heimat eher skeptisch, ja geradezu gelangweilt betrachten. Als Magne einem älteren Herrn mit seinem streikenden Elektromobil hilft, stellt sich nicht nur für den Zuschauer sofort sein hilfsbereiter Charakter in den Vordergrund, sondern wird auch von einer betagten Dame wahrgenommen, die das fürsorgliche Geschehen vom Friseursalon aus beobachtet hat. Mit einem freundlichen „Du bist ein guter Junge…“ streicht sie Magne mit dem Daumen über die Stirn und die auflodernden Blitze in seinen Pupillen lassen erahnen, dass den Jungen noch Größeres erwarten wird.

Tatsächlich stellt Magne schon bald Veränderungen an sich fest. Beispielsweise seine noch schwer kontrollierbare Stärke… oder eine Verbesserung seiner Sehkraft, sodass die Lesehilfe bald zum alten Eisen gehört. Apropos „Lesen“… Magnes große Schwachstelle. Bisher hatte er nämlich mit Legasthenie zu kämpfen, was von den neuen Mitschülern erstmal belächelnd wahrgenommen wird. Nicht mit der besten Konzentration gesegnet und als schwierig geltend, findet er trotz seiner introvertierten Art – eine der Eigenschaften, die ihn gänzlich von seinem Bruder Laurits unterscheidet – Anschluss und freundet sich mit der Außenseiterin Isolde (Ylva Bjørkaas Thedin) an. Isolde engagiert sich für den Umweltschutz und betreibt eine YouTube-Channel, auf dem sie auf dieses Thema aufmerksam machen will. Die Tochter des lokalen Gymnasiallehrers Erik (Odd-Magnus Williamson) nimmt auch regelmäßig Wasserproben in den Gletschern, um auf die Verunreinigung des Trinkwassers in der Region aufmerksam zu machen. Als Love-Interest scheidet die gepiercte Aktivistin erstmal aus, da Isolde dem eigenen Geschlecht zugetan ist… aber einer Freundschaft steht nichts im Wege. Immerhin mehr als das, was Magne in der Vergangenheit vorweisen konnte. Isolde erklärt im auch, wie es um die örtlichen und schulischen Hierarchien gestellt ist… und dabei stellt sich heraus, dass diese gar nicht weit auseinander liegen.

Während sich in Edda fast alles um den schwerreichen Industriellen Vidar Jutul (Gísli Örn Garðarsson) und die nach ihm benannte Firma dreht, hat seine überaus attraktive Gattin Ran (Synnøve Macody Lund) das Sagen an Eddas Gymnasium, welches sie als Schulleiterin führt. Die Stars der Schule sind aber zweifelsohne deren Kinder. Während die weibliche Schülerschaft dem schneidigen Fjor (Herman Tømmeraas) hinterherschmachtet, verdreht seine Schwester Saxa (Theresa Frostad Eggesbø) allen männlichen Hormonschleudern den Kopf. Durchtrainiert, selbstbewusst und so eiskalt wie ihr stechender Blick, ist sie das genaue Spiegelbild ihres Vaters, der auch immer seinen Vorteil im Blick hat. Fjor hingegen ist nicht so leicht zu durchschauen und lässt immer wieder seine weiche – in den Augen seines Vaters „schwache“ – Seite durchblitzen… vor allem, wenn es um die blonde Mitschülerin Gry (Emma Bones) geht, die nach und nach auch Magnes Interesse weckt.

Was sich hier noch wie ein Liebesdreieck aus einer Inga Lindström-Adaption vor toller Naturkulisse anhört, wendet sich schon bald in ungeahnte Richtung. Gut, anhand Magnes neu entflammten Fähigkeiten vielleicht nicht GANZ ungeahnt… aber der Drama- und Mystery-Aspekt soll nicht lange auf sich warten lassen. Bei einer überschaubaren Anzahl an Episoden auch recht wünschenswert. Jedenfalls macht Isolde bei einer gemeinsamen Gletscher-Begehung mit Magne, die dieser jedoch vorzeitig abbrechen muss, eine folgenschwere Entdeckung. Im zurückgewichenen Eis findet sie einen Höhleneingang, den die neugierige Schülerin natürlich genauer unter die Lupe nimmt. Dort wiederum befindet sich eine verschlossene Tür, deren Aufschrift – neben einer „Lebensgefahr!“-Warnung – auch der Schriftzug von Jutul Industries ziert. Ziemlich zeitgleich werden wir Zeugen dessen, was Vidar Jutul so in seiner Freizeit treibt und spätestens jetzt wird klar, dass Edda alles andere als das verschlafene -wenn auch hübsche - Kaff ist, wie es sich die Seier-Brüder es bei ihrer Ankunft noch ausgemalt hatten. Als dann auch noch ein tragisches Unglück geschieht, dessen Zeuge Magne wird, ist klar, dass hier etwas gewaltig Richtung Himmel stinkt… und damit meine ich keinen verkohlten Gleitschirm in einer Stromleitung.

Da scheint es dann auch kein Zufall mehr zu sein, dass im Schulunterricht das „Schicksal der Götter“ auf dem Lehrplan steht… auch bekannt als „Ragnarök“. In der nordischen Mythologie jener Kampf, bei dem die Götter auf die Riesen, die Jötunen, treffen und deren dreijährige Schlacht im Weltuntergang gipfelt. Immer mehr wird klar, wer den Weg der Götter einschlägt… was die Gegenseite unter keinen Umständen dulden kann. Denn diese ist in Edda schon seit ungeahnt langer Zeit aktiv.

„Die Reise der Helden hat begonnen…“
- Wenche (SPAR-Markt-Mitarbeiterin des Monats)

Serienschöpfer Adam Price, aus dessen Feder bereits die dänische Polit-Serie „Borgen – Gefährliche Seilschaften“ stammt, hat einen Genre-Mix aus der Taufe gehoben, der angenehm frisch aus der Masse an Serien heraussticht. Gänzlich entfernt von der amerikanisierten Höher-Schneller-Weiter-Formel, legt „Ragnarök“ erzählerisch einen Gang zurück. Diese Tatsache macht die erste Staffel aber keineswegs zäh oder langweilig, gewiss nicht, denn sie drückt beim Zuschauer genau die richtigen Knöpfe. Sie liefert interessante Charaktere, die schon mit der kantigen, aber durchaus sympathischen Hauptfigur, nicht dem gängig-geleckten Hollywood-Schönheitsideal entsprechen. Magne könnte der typische Junge von nebenan sein. Ein Typ, den wir selber aus der Schulzeit kennen… und vielleicht sogar schon vergessen haben. Unscheinbar. Stets anwesend, aber unter unserem Radar. Dabei sind wir stets mit ihm auf Augenhöhe, wenn er seine neugewonnenen Fähigkeiten entdeckt und sichtlich überfordert versucht, diese einzuordnen. Das schafft Nähe zum Charakter und hat Identifikationspotential. Auch wenn beim großgewachsenen Blondschopf, der einen Hammer weiter wirft als jeder Weltrekordler, schnell klar wird, worauf die Geschichte hinauslaufen wird, ist es spannend, seine Entwicklung mitzuerleben.

Ebenso verhält es sich mit der Gegenseite. Auch bei der stein- und einflussreichen Jutul-Familie ist mehr Gehalt vorhanden, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Piekfein und gestriegelt, schön und hochangesehen, bewundert und mächtig. Ja, das trifft alles zu und dennoch gibt es hinter verschlossenen Türen genügend Konflikte, um diese ausgiebig zu thematisieren. Angefangen bei der harten Hand des Hausherrn. Dem Konkurrenzverhalten der Geschwister Saxa und Fjor. Den Kleinigkeiten, die Mensch von Sagengestalt trennen. Dass Zuneigung als Schwäche ausgelegt wird… und dass man seinem Schicksal nicht entrinnen kann. Schon gar nicht, wenn Daddy dir bei einem Fehltritt die Scheiße aus dem Leib prügelt.

Das Offensichtliche?

Ja, vieles kommt in „Ragnarök“ mit dem Holzhammer daher. Damit meine ich noch nicht mal die einleitenden Textpassagen vor jeder Folge, die bereits beim Start von Folge 2 vom heldenhaften Gott Thor berichten, der beim Kampf gegen seine Feinde für Recht und Ordnung stand. Viel eher meine ich die Umweltschutz-Botschaft, die uns ziemlich offensichtlich um die Ohren geschlagen wird. Dazu eine hippe Greta in Form der blauhaarigen Isolde, die sofort auf den frisch zugezogenen Sonderling anspringt und – zumindest kurzzeitig – eine untrennbare Einheit mit ihm bildet. Das könnte 1:1 aus einem Hollywood-Klischee-Baukasten für Teenie-Schnulzen vom Reißbrett stammen, zerschlägt sich aber erfreulicherweise recht schnell. Nicht so erfreulich für die Beteiligten, dafür aber für den Zuschauer. Dachte ich anfangs noch, ich wüsste sofort wo die Reise mit allen Protagonisten hingeht, wurde ich recht flott eines Besseren belehrt. Natürlich gibt es trotzdem voraussehbare Entwicklungen… über die kann man aber größtenteils hinwegsehen, da die Figuren einen schnell auf ihre Seite ziehen und man ihnen so manch erwartbaren Part gerne verzeiht.

Die Dynamik zwischen den Brüdern Magne und Laurits ist ebenfalls sehr interessant. Liegt es quasi von Anfang an auf der Hand, dass eine gewisse Verbindung zwischen Magne und Donnergott Thor besteht, womit ich jetzt auch nicht die dickste Katze aus dem Sack lasse, hatte ich spätestens bei der Schulfeier in der zweiten Episode, als Laurits geschminkt und in Mamis Fummel auf der Party aufschlägt, ein gewisses Schlitzohr namens Loki im Hinterkopf. WAS und OB an dieser Theorie überhaupt etwas dran ist, wird sich hoffentlich noch zeigen… denn nach einem explosiven Finale ließ NETFLIX bereits verlauten, dass „Ragnarök“ eine weitere Staffel bekommen wird. Sehr erfreulich. Vor allem, da die Geschichte auf der Fantasy-Ebene gerade erst richtig in Fahrt kommt.

Gucken… oder lieber doch nicht?

Definitiv GUCKEN! Denn obwohl hier viele Klischees erfüllt werden und die erste Staffel mit 6 Folgen auch ziemlich mager ausfällt, zeigt sich bereits früh, dass eine Menge Potential in „Ragnarök“ steckt. Die hierzulande eher unbekannten Darsteller sind perfekt gewählt und dadurch, dass sie uns erfrischend unverbraucht vorkommen, assoziiert man sie erfreulicherweise nicht mit anderen Rollen. Ein großer Pluspunkt in Sachen Authentizität.

Eine dicke Empfehlung ist die begleitende Making-of-Reihe auf dem YouTube-Kanal Netflix Nordics. In den 6 zwischen 10 und 15-minütigen Clips sind wir hautnah bei den Dreharbeiten dabei, lernen die Darsteller auch von privater Seite besser kennen, sehen was hinter den Kulissen abgeht und begleiten den aufgeregten Cast sogar zur Premiere von „Ragnarök“. Ein großer (und deutsch untertitelter) Spaß, der nochmals Sympathiepunkte bringt, da man direkt merkt, wie viel Freude alle Beteiligten bei der Arbeit hatten.

Fazit:

Drama, Fantasy und nordische Mythologie. Eine gelungene Mischung, die abseits von US-Sehgewohnheiten sofort an den Bildschirm fesselt. 6 Episoden, die regelrecht zum „bingen“ einladen, was die Wartezeit auf eine bereits angekündigte zweite Staffel zur Geduldsprobe werden lässt. Wenn das Erzähltempo aber auf dem hier gegebenen Niveau bleibt und nicht erfolgsverwöhnt in Hollywood-Bombast abdriftet, nehme ich die Zeit, die es dauert Qualität statt Quantität zu produzieren, gerne in Kauf. Vielleicht übe ich mich währenddessen in Hammerwerfen… oder 100-Meter-Sprint… oder Paragliding… oder…

Wertung: 9

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